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Guter Abi-Durchschnitt trotz Corona "Unerwartete Konzentrations- und Lerneffekte"

Erste Ergebnisse aus den Ländern zeigen teilweise ein verbessertes Niveau bei den Abiturnoten. Gab es für diesen Jahrgang einen Corona-Bonus? Schulforscherin Nele McElvany sieht andere Gründe.
Ein Interview von Armin Himmelrath
Leichte Verbesserungen im Vergleich zum Vorjahr: Schülerinnen und Schüler beim Abitur während der Coronakrise (in Kiel)

Leichte Verbesserungen im Vergleich zum Vorjahr: Schülerinnen und Schüler beim Abitur während der Coronakrise (in Kiel)

Foto: Frank Molter/ dpa

Berlins Abiturientinnen und Abiturienten, sagt Bildungssenatorin Sandra Scheerer (SPD), "können in diesem pandemiegeprägten Ausnahmejahr besonders stolz auf ihre Leistungen sein". Und ihr Amts- und Parteikollege Ties Rabe in Hamburg jubelt, "dass es richtig war, die Abiturprüfungen durchzuführen und nicht abzusagen".

Der Grund: In beiden Ländern fiel das Abitur 2020 besser aus als in den Jahren zuvor. So erreichten Berliner Abiturienten im Schnitt eine 2,3 - zuvor hatte der Wert jahrelang bei 2,4 gelegen. In Hamburg kletterte die Durchschnittsnote beim Reifezeugnis von 2,48 (2019) auf jetzt 2,36.

Auch andere Länder melden trotz der Corona-bedingten Unsicherheiten gute und zum Teil verbesserte Noten bei den Schulabschlüssen: So teilte Schleswig-Holstein mit, dass der Abi-Schnitt an Gymnasien in diesem Jahr bei 2,44 liege - 2019 waren es 2,48 gewesen. Und auch beim Mittleren Schulabschluss haben sich die Absolventinnen und Absolventen in Schleswig-Holstein verbessert: Die Durchschnittsnote stieg von 3,39 im vergangenen Jahr auf aktuell 3,31.

Unbewusste Bewertungsfehler

Aufatmen auch in Brandenburg: "Ich freue mich sehr, dass unter den Rahmenbedingungen 2020 die Leistungen der Schülerinnen und Schüler konstant geblieben sind", sagt Bildungsministerin Britta Ernst. Der landesweite Abiturdurchschnitt liegt - wie in den Vorjahren - bei 2,3. Noch besser sind die Ergebnisse der Zehntklässler bei den Mittleren Schulabschlüssen: Da sind die Abschlussnoten in Brandenburg gegenüber dem Vorjahr in den Fächern Deutsch und Englisch flächendeckend besser geworden. In Mathematik allerdings ließen die Leistungen etwas nach.

Die Mannheimer Psychologin Meike Bonefeld hält unbewusste "Kontrasteffekte" für eine der denkbaren Erklärungen der unerwartet guten Notendurchschnitte: "Wenn eine Lehrkraft schlechtere Leistungen wegen der Corona-Umstände erwartet, dann aber eine normal gute Klausur bekommt, dann wird die Leistung möglicherweise als deutlich besser eingeschätzt und entsprechend auch besser benotet." Solche unbewussten Bewertungsfehler seien bereits aus früheren Studien zur Leistungsbewertung bekannt.

Für die Dortmunder Schulforscherin Nele McElvany kommt noch ein Bündel an weiteren Effekten hinzu, die die Notengebung beeinflusst haben können. Im Interview mit dem SPIEGEL erklärt sie, warum die Qualität des digital erteilten Unterrichts dabei wohl eher keine Rolle gespielt hat.

Zur Person
Foto: Meike Kenn/ IfS/ TU Dortmund

Nele McElvany, Jahrgang 1977, ist seit 2009 Professorin für Empirische Bildungsforschung  an der TU Dortmund. Zuvor war die Psychologin sieben Jahre lang wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-lnstitut für Bildungsforschung in Berlin. Sie leitet den deutschen Teil der internationalen Bildungsstudie Pirls/ Iglu.

SPIEGEL: Ist der 2020er-Abschlussjahrgang schlauer als andere?

McElvany: Das wahrscheinlich nicht. Aber dass die Jugendlichen durch Corona wochenlang zu Hause saßen und weder durch die Schule noch durch irgendwelche Freizeitaktivitäten abgelenkt wurden, könnte durchaus unerwartete Konzentrations- und Lerneffekte ermöglicht haben.

SPIEGEL: Es gab also keinen Corona-Bonus?

McElvany: Noch liegen zum diesjährigen Abitur nicht genügend empirische Daten vor, um das zum jetzigen Zeitpunkt genauer beurteilen zu können.

SPIEGEL: Einige Bundesländer wie Berlin und Hamburg melden, dass der Abiturdurchschnitt in diesem Jahr besser war als in den vergangenen. Das liege am guten Digitalunterricht, sagt der Hamburger Bildungssenator Ties Rabe. Halten Sie das für eine schlüssige Erklärung?

McElvany: Nun ja, es gab auch Schülerinnen und Schüler, die damit überhaupt nicht zurechtkamen – weil sie zum Beispiel gar nicht die technischen Möglichkeiten hatten. Aber viele könnten die freie einteilbare Zeit eben auch zum Lernen genutzt haben. Diesen möglichen Effekt sollte man nicht vorzeitig ausschließen. Ob dann die digital erteilten Unterrichtsstunden besonders gut waren oder auch nicht, ist aus meiner Sicht für den Abischnitt nicht so entscheidend.

"Spannend ist die Rolle und das Selbstverständnis der Lehrkräfte"

Nele McElvany

SPIEGEL: Welchen Ursachen kommen denn aus Ihrer Sicht noch in Frage?

McElvany: Das Abitur besteht ja nicht nur aus einer einzigen Prüfung, sondern setzt sich zusammen aus den Leistungen in den vier Halbjahren der Qualifizierungsphase und den eigentlichen Prüfungsmonaten mit Klausuren und mündlichem Examen. Und nur dieses letzte Halbjahr war ja von Corona betroffen, nur da könnte es also überhaupt so etwas wie einen Mitleidsbonus gegeben haben. Es wäre allerdings auch denkbar, dass generell in diesem Prüfungsjahr etwas leichtere Aufgaben als sonst ausgewählt wurden. Es gibt also viele mögliche Faktoren.

SPIEGEL: Die Lehrerinnen und Lehrer gehören nicht dazu?

McElvany: Doch, definitiv. In Berlin wurden, wie in anderen Ländern auch, in diesem Jahr die Fremdkorrekturen durch Kolleginnen und Kollegen von anderen Schulen ausgesetzt. Das ändert das Setting natürlich schon.

SPIEGEL: Inwiefern?

McElvany: Wenn ich als Lehrerin weiß, dass jemand Unbekanntes von außerhalb noch einmal auf meine Bewertung schaut, urteile ich möglicherweise strenger als in einer Situation, in der nur die mir bekannten Kollegen meine Noten überprüfen.

SPIEGEL: Das klingt ein wenig nach: Wenn überhaupt, dann haben die Lehrerinnen und Lehrer eher unbewusst zu einem guten Abiturergebnis beigetragen.

McElvany: Wie gesagt: Noch fehlen die Daten, um das zu beurteilen. Aber spannend ist in der Tat die Rolle und das Selbstverständnis der Lehrkräfte. Wir haben in den vergangenen Wochen Tausende von Lehrerinnen und Lehrern befragt, wie sie die Coronakrise erleben. Eine Aussage, die sie bewerten sollten, war: "Meine Priorität ist motivierende Aufgaben zur Verfügung zu stellen; Lernen steht dann nach dieser Phase wieder im Mittelpunkt." Lehrkräfte an Gymnasien lehnen diese Aussage am stärksten ab, viel stärker als ihre Kolleginnen und Kollegen an anderen Schulformen.

SPIEGEL: Was bedeutet das in der Praxis?

McElvany: Man könnte das als Hinweis darauf deuten, dass an Gymnasien grundsätzlich anders gelehrt und gelernt wird – auch in der Corona-Phase. Und auch das könnte letztlich einen Einfluss auf die Abinoten gehabt haben.

him