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Gute Wünsche für die gefährdeten Generationen. Kita-Front im hessischen Kassel.

© Uwe Zucchi/dpa

Kinder brauchen Kinder: Warum Kitas nicht länger als unbedingt nötig geschlossen bleiben sollten

Der Vorschlag der Leopoldina, Kitas länger geschlossen zu lassen, muss hinterfragt werden. Denn Kinder brauchen ihresgleichen. Ein Gastkommentar.

Peter Dabrock hat einen Lehrstuhl für Theologie und Ethik an der Universität Erlangen-Nürnberg inne und war bis letzten Freitag Vorsitzender des Deutschen Ethikrates.

Mit der ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina kommt Fahrt in die Debatte um „Öffnungsperspektiven“ auf den gegenwärtigen Lockdown. Mit den Papieren der Gruppe um Clemens Fuest, dem Expertenrat NRW Corona von Armin Laschet, der Helmholz-Gesellschaft und der Leopoldina liegt nun eine gehaltvolle Diskussionsgrundlage vor.

Es bestätigt sich, was der Ethikrat bereits vor knapp drei Wochen eingefordert hatte: Eine zielführende Debatte über Kriterien und konkrete Vorschläge für den Weg in eine „verantwortungsvolle Normalität“ kann nicht früh genug beginnen. Denn der Teufel steckt nun mal im Detail.

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Genau darum muss gerungen werden, um die Zahl der schwer an COVID-19 Erkrankten unter der medizinischen Kapazitätsgrenze und gleichzeitig die gravierenden Schäden der Beschränkungsmaßnahmen möglichst gering zu halten.

Im Sinne dieser Diskussion kann ich nicht anders, als einen Vorschlag der Leopoldina zum Bildungssystem zu hinterfragen. Zusätzlich zu den Empfehlungen die Schule unter Beachtung strenger Hygiene-, Schutz- und Distanzmaßnahmen nach Jahrgangsstufen und Klassengrößen differenziert sukzessive zu öffnen, äußert sich die Leopoldina eher nebenbei zu Kitas: Diese sollten insbesondere „für die jüngeren Jahrgänge bis zu den Sommerferien weiterhin im Notbetrieb bleiben.“

Kinder sind Subjekte mit eigenen Rechten

Diese Empfehlung gibt mir zu denken: Wie weit werden in der gegenwärtigen Debatte Kinder nicht nur als Objekte von Erziehung und Betreuung wahrgenommen, sondern als Subjekte, die eigene Rechte haben? Minister Spahn hat kürzlich in einem Interview zu Recht darauf hingewiesen, dass wir bei der Beurteilung von „Öffnungsperspektiven“ zwei Fragen stellen müssen: Sind bestimmte Verhaltensweisen verzichtbar? Und: Wie hoch ist das Infektionsrisiko?

Vermutlich ist der Bereich der Schule, aber auch der Kindertagesstätten, derjenige neben den Pflegeheimen, in dem die Antworten auf diese beiden Fragen am schwierigsten auszubalancieren sind.

Gerade weil in den öffentlichen Debatten der Blick vor allem auf das Infektionsrisiko fällt, muss ich fragen: Können Kinder – und zwar nicht nur, wie im Leopoldina-Papier zugestanden, diejenigen aus sogenannten bildungsfernen oder aus schwierigen anderen Konstellationen – knapp ein halbes Jahr auf Kontakt zu anderen Altersgenossen verzichten? Wäre eine solche Maßnahme nicht ein massiver Eingriff in ihre Grundrechte?

Dabrock fragt: Wie weit werden in der gegenwärtigen Debatte Kinder nicht nur als Objekte von Erziehung und Betreuung wahrgenommen, sondern als Subjekte, die eigene Rechte haben?
Dabrock fragt: Wie weit werden in der gegenwärtigen Debatte Kinder nicht nur als Objekte von Erziehung und Betreuung wahrgenommen, sondern als Subjekte, die eigene Rechte haben?

© imago images/Hollandse Hoogte

Neben den Eltern zählen die Altersgenossen

Kindeswohl wird in Sonntagsreden seit Jahren gefordert, ebenso wie die Einführung von Kinderrechten im Grundgesetz. Sie umfassen nicht nur Schutz- und Beteiligungsrechte, sondern auch das Recht auf Förderung ihrer Persönlichkeit, die nicht nur kognitive, sondern vor allem emotive und soziale Dimensionen umfasst.

Man hat gegenwärtig den Eindruck, als ob es bei Schule- und vor allem Kindertagesstättenschließung allein um Hindernisse bei notwendiger Wissensvermittlung gehe. Doch dieser Ansatz greift zu kurz. Kinder benötigen für Ihre Persönlichkeitsentwicklung nicht nur Eltern, so viel Mühe die sich auch geben. Spielkamerad:innen sind mindestens so wichtig.

Ein Großteil emotionaler und sozialer Grundbedürfnisse entfaltet sich allein in der Begegnung mit anderen Kindern, in Freundschaften wie auch in Grenzerfahrungen in der Gruppe der Gleichaltrigen. Das Wegbrechen dieser entscheidenden Grundbedürfnisse wird in der Debatte völlig unberücksichtigt gelassen.

Sollen sie ein halbes Jahr lang quasi weggesperrt werden? Ist für kleine Kinder diese Lebensdimensionen, ein halbes Jahr, das für sie eine halbe Ewigkeit ist, allen Ernstes verzichtbar?

Hintergrund zum Coronavirus:

Ich vermisse Vorschläge, die signalisieren, dass diese Grundbedürfnisse derjenigen, die uns doch am Wichtigsten sein sollten, von Anfang an mitgedacht werden.

Immerhin sind Kinder – nach allem, was man bisher weiß – von der Krankheit nicht so stark betroffen; und in der Regel gehören Eltern auch nicht zu den älteren Jahrgängen, sind also in überwiegender Zahl ebenfalls nicht Risikogruppe. Deswegen müssen die weiteren Maßnahmen in einem Verhältnis zu den massiven Einschränkungen ihrer Lebensmöglichkeiten stehen.

Natürlich – wer sieht das nicht? – sind Kinder, weil sie nicht so Distanz halten können, besonders gefährliche Überträger.

Aber in der Abwägung zwischen Verzichtsmöglichkeit und Infektionsrisiko muss einfach der Unverzichtbarkeit kindlicher Grundbedürfnisse mehr Rechnung getragen werden. Gibt es da nicht mildere Wege? Gibt es nicht Wege, Risikogruppen und Kinder – bei allen zu beachtenden Sonderfällen – stärker zu trennen?

Bevor alle jüngeren Kinder de facto isoliert werden, müssten nicht stärker diejenigen, die einer der unterschiedlichen Risikogruppe angehören, bereit sein, Isolation auf sich zu nehmen?

Auch besonders gefährdete Lehrer brauchen Schutz

Selbstverständlich müsste dann alles dafür getan werden, dass diese für sie extreme Situation mit allen erdenklichen Hilfen ausgestattet wird. In der Tendenz können aber Erwachsene mit solch einer arg belastenden Situation besser umgehen als kleine Kinder. Und natürlich gibt es die schwierigen Fälle, in denen Kinder und Erwachsene in einem Haushalt zur Risikogruppe gehören. Auch muss der Situation von besonders gefährdeten Lehrer:innen und Erzieher:innen Rechnung getragen werden.

Die bittere Wahrheit ist aber doch: Für diese Gruppen besteht solange, bis ein Impfstoff gefunden ist, immer ein Infektionsrisiko. Aber so lange – das scheint mir ein Konsens in der Gesellschaft zu sein – wird man Kindern nicht ihre Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten vorenthalten können.

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Deshalb kann das Kriterium der Isolation der einen oder anderen Gruppe doch nur sein, die Rate der schweren Verläufe – und dies sind nach derzeitiger Kenntnis der Dinge wohl mit einigen tragischen Ausnahmenfällen die der Risikogruppen – unterhalb der intensiv- und palliativmedizinischen Kapazitätsgrenze zu halten.

Der am Anfang viel zu schnell verworfene Gedanke eigener Ladenöffnungszeiten für Risikogruppen oder andere Trennungsvorschläge könnten so nochmals neu in die Debatte eingespeist und auf ihre Umsetzbarkeit hin überprüft werden – bevor eben kleine Kinder ausnahmslos keine sozialen Kontakte mehr pflegen dürfen.

Das Verhältnis von Regel und Ausnahme muss neu justiert werden

Ich bin weder Epidemiologe noch Erziehungswissenschaftler, aber mir missfällt, dass das Verhältnis zwischen Regel und Ausnahme, zwischen Schwerpunktsetzung und notwendiger Beachtung von Grenzfällen nicht mehr zu stimmen scheint. Wenn Kinder die Zukunft sind, wenn sie uns das Wichtigste sind, dann müssen sie in den Empfehlungen viel stärker berücksichtigt werden.

Deshalb bedarf es noch einer viel breiteren Diskussion konkreter Vorschläge. Ich würde mir dringend wünschen, dass sich mehr Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Praxis der Kinderbetreuungseinrichtungen wie der Erziehungswissenschaften beteiligen. Es ist nie zu früh für eine intensive Debatte um Kriterien für Öffnungsperspektiven und konkrete Wege „in eine verantwortliche Normalität.“

Disclaimer: Wer mir vorwirft, ich würde nur eigene Interessen vertreten, weil ich selbst betroffene Kinder habe, den möchte ich zurückfragen: Haben Sie bei der Leopoldina-Gruppe auch danach gefragt, wer dort zu betreuende Kinder hat oder andere Interessen mit einbringt? Kurzum, jeder hat Interessen, darauf soll man für sich und andere ehrlich und kritisch reflektieren. Tut man dies, sollte man sich vor allem an den Argumenten orientieren und nicht den Eindruck erwecken, dass allein das Aufdecken vermeintlicher Interessen eine Argumentation abwertet.

Peter Dabrock

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