Berlin. Immer häufiger kleben sich Menschen aus Protest auf die Straße. Ob sie damit bessere Klimapolitik durchsetzen können, ist ungewiss.

"Ihr seid so scheiße!", "Asoziales Pack!", "Versager!". Von den Autofahrern schlagen Antonia Verachtung und Hass entgegen. Sie schaut auf eine Kolonne Motorhauben, die immer länger wird. Im Schneidersitz hockt sie auf der Straße und kann nicht weg, weil ihre linke Hand mit Sekundenkleber am Asphalt haftet. Antonia, 20, gehört zur Aktivistengruppe "Letzte Generation". Am vergangenen Montag, gegen 8.30 Uhr, springen sechs von ihnen auf die Ausfahrt der Autobahn 103 auf den Sachsendamm. Eine Hauptverkehrsstraße in Berlin-Tempelhof.

Autos hupen, Polizisten hetzen sofort zur Blockade, ziehen die Demonstrantinnen von der Straße. Die Polizei hat nur wenige Meter entfernt patrouilliert. Antonia und ein Mitstreiter bleiben auf dem Boden. Das Polymer im Kleber wirkt. Für ein paar Minuten geht nichts mehr.

"Letzte Generation": Immer häufiger kommt es zu Störaktionen

Die beiden versperren zwei der drei Fahrspuren. Am Straßenrand kauern die restlichen vier Aktivistinnen in Handschellen, die Blicke nach unten gerichtet. Vor Antonia liegt ein rotes Banner. "Was, wenn die Regierung das nicht im Griff hat?", steht da drauf. Mit "das" meint die Gruppe: die Klimakrise.

Antonia von der „Letzten Generation“.
Antonia von der „Letzten Generation“. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Seit Mitte Oktober organisiert die "Letzte Generation" fast täglich Straßenblockaden, vor allem in Berlin. Sie sagen, sie seien zwischen 500 und 600 Leute. Eine relativ überschaubare Bewegung, die die Politik zu härterem Klimaschutz zwingen will, mit ihren extremen Methoden aber hauptsächlich Unbeteiligte trifft. Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit sind. Eltern, die ihre Kinder zur Schule bringen.

Doch was will die "Letzte Generation" eigentlich mit ihren Protesten genau erreichen? Was sind ihre Ziele? Und warum wählen sie bewusst radikale Aktionen, die die Wut der Bevölkerung auf sich ziehen?

Klimakrise: "Die letzten Jahre, in denen wir noch handeln können"

"Bei unserem aktuellen Kurs werden Milliarden Menschen auf der Flucht sein. Und zwar nach Europa, viele andere Teile der Welt werden unbewohnbar", sagt Antonia. Sie trägt eine orangefarbene Warnweste, der Mann neben ihr eine signalrote Jacke. Die junge Aktivistin fürchtet den "Zusammenbruch der Zivilisation" und Kämpfe um überlebenswichtige Ressourcen. "Jetzt sind die letzten Jahre, in denen wir noch handeln können."

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Die Hauptforderungen der "Letzten Generation" klingen erst einmal überraschend niedrigschwellig: Eine Fortführung des 9-Euro-Tickets und ein Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen. Dabei handelt es sich um "erste Sicherheitsmaßnahmen", wie es die Gruppe in einem Brief an die Ampel-Koalition formuliert. Dass Deutschland beim Klimaschutz mehr tun muss, bestätigen selbst Fachleute. Stand jetzt werde Deutschland seine CO2-Reduktionsziele bis 2030 nicht erreichen, hat der Expertenrat für Klimafragen vor zwei Wochen gewarnt.

"Letzte Generation": Aktionen laut Experte durchaus zielführend

Vor Kurzem hat eine "Spiegel"-Umfrage erstaunliches ergeben. Demnach fühlen sich 53 Prozent der Deutschen ungenügend von der Regierung vor dem Klimawandel geschützt. Ganze 86 Prozent der Befragten lehnen jedoch die Protestformen der "Letzten Generation" ab. "Die Straßenkleber und Kunstzerstörer schaden dem Anliegen Klimaschutz", sagt CDU-Politiker Jens Spahn. "Die große Aufgabe, vor der wir stehen, werden wir so nicht bewältigen."

Fragt man den Berliner Protestforscher Christian Volk, sind die umstrittenen Aktionen der Bewegung aber durchaus zielführend. "Denn sie verursachen Kosten, beispielsweise wenn die Menschen im Stau stehen und sich ärgern, und sie erhöhen – und das sieht man ja auch an den Reaktionen – den Druck auf die Regierung." Sie würde in eine Situation gebracht, in der sie die Proteste in den "Griff bekommen" müssten.

Die Gruppe bewirkt vor allem zwei Dinge, sagt der Experte: "Mit disruptiven Mitteln und relativ wenig Leuten schaffen sie es, die Klimakrise medial präsent zu halten und gleichzeitig politischen Entscheidungsdruck herbeizuführen." Strategisch mache die Bewegung das "sehr gut". Allein damit hat sie, sagt Volk, schon viel erreicht.

Klimaproteste der "Letzten Generation" polarisieren

Eine halbe Stunde kleben die Aktivisten bereits auf der Fahrbahn. Die Autos stauen sich über Hunderte Meter. Auf der freien Spur rollt der Verkehr nur langsam voran. Antonia hat ein Wärmekissen über ihre Hand gelegt. Zweimal verliest ein Beamter eine polizeiliche Anordnung, die Blockade zu beenden, dann kommt der Räumungserlass. Ein Polizist kniet sich zu Antonia herunter. Er erklärt, wie er sie jetzt von der Straße lösen wird. Sie blickt durch ihn durch, sie kennt das ja schon. Es ist ihre vierte Sitzblockade. Der Polizist kippt Speiseöl über ihre Hand, lässt es kurz wirken. Dann streichelt er mit einem Pinsel an ihren Fingern entlang. Es dauert.

In der Zwischenzeit erhalten die Aktivisten Zuspruch – zum ersten Mal an diesem Morgen. "Dafür stehe ich gerne im Stau", ruft ihnen die Fahrerin eines schwarzen Kombis zu. "Macht weiter so." "Haltet durch!", ist aus einem anderen Auto zu hören.

Eine Autofahrerin lässt das Fenster runter. Sie stehe zum zweiten Mal wegen der Aktivisten im Stau, sagt sie. "Eigentlich teile ich deren Anliegen. Aber wenn ich derentwegen aufgehalten werde, nervt das total."

Mit Speiseöl und Pinsel löst ein Polizist Antonias Hand vom Asphalt.
Mit Speiseöl und Pinsel löst ein Polizist Antonias Hand vom Asphalt. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Tödlicher Unfall löst Wutausbruch gegen die Gruppe aus

In den vergangenen Wochen ist die Kritik an der Klima-Protestbewegung schärfer geworden. Mit dem Beschmieren von Gemälden fing es an zu brodeln. Dann passierte der Unfall, der einen kollektiven Wutausbruch gegen die "Letzte Generation" entlud.

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Am 31. Oktober überrollt ein Betonmischer in Berlin eine Radfahrerin. Ein Spezialwagen, der den Lkw anheben soll, steht auf der Autobahn im Stau. Die Fahrbahn ist teils gesperrt, weil Aktivisten der "Letzten Generation" auf eine Schilderbrücke geklettert sind. Als der Rüstwagen nach 19 Minuten endlich den Unfallort erreicht, ist die Frau schon befreit. Sie stirbt später im Krankenhaus.

Inwiefern die beiden Ereignisse zusammenhängen, wird bis heute ermittelt. Doch schnell scheint festzustehen, dass die Aktivisten für das verspätete Eintreffen des Spezialwagens verantwortlich sind. Medien und Politiker streuen diese Deutung. Rufe nach härteren Strafen werden lauter, Vergleiche mit der RAF gezogen. Lesen Sie auch: Klima-Proteste: Grünen-Chefin Lang warnt vor RAF-Vergleichen

In München schicken Richter im November 13 Mitglieder der "Letzten Generation" gar längerfristig in Präventivhaft. Diese Maßnahme sei "klar unverhältnismäßig", sagt Benjamin Grunst, Fachanwalt für Strafrecht.

Aktivistin: "Wir müssen jetzt mehr tun als demonstrieren und Petitionen starten"

Carla Rochel von der „Letzten Generation“.
Carla Rochel von der „Letzten Generation“. © Foto: Marlene Charlotte Limburg

Carla Rochel gehört zu den bekannten Gesichtern der "Letzten Generation". Seit November 2021 ist sie dabei. Davor lief sie bei Fridays for Future mit. Sie hat schon bei "ungefähr 50" Aktionen mitgemacht, sagt sie, und saß "insgesamt acht Nächte in einer Zelle".

Für den Kampf gegen den Klimakollaps hat die 20-Jährige ihr Studium geschmissen. Die Aktivistin ist überzeugt, dass es "diese Form von zivilem Ungehorsam" geben muss. "Wir müssen jetzt mehr tun als demonstrieren und Petitionen starten."

Carla Rochel scheint die breite Ablehnung in der Bevölkerung nicht zu stören. "Wir sind auf der Straße, um Druck zu machen", sagt sie. "Nicht, weil wir beliebt sein wollen." Und da die Mehrheit der Deutschen unzufrieden sei mit der aktuellen Klimapolitik, befürchtet sie auch nicht, die Menschen zu verprellen.

"Niemand, der die Klimakatastrophe ernst nimmt, wendet sich unserer Aktionen wegen vom Thema ab." Studien würden zeigen, dass solche Proteste Menschen dazu bringen können, sich klimapolitisch einzubringen. "Sie müssen sich ja nicht gleich auf die Straße setzen."

Aktivistin über Terrorgruppen-Vergleich: "Wir protestieren friedlich"

Seit dem tödlichen Fahrradunfall vor zwei Wochen hat die Aggressivität gegenüber den Aktivistinnen auf der Straße zugenommen, sagt Carla Rochel. "Uns wurde schon mit Handtaschen eins übergezogen." Und immer begleitet sie die Angst, dass ein Autofahrer eines Tages durchdreht und aufs Gas drückt. "Völlig abwegig", seien die Vergleiche mit der RAF. "Wir protestieren friedlich."

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Christian Volk bezweifelt, dass die Politik auf die Forderungen eingehen wird. Aber wie kann es dann für die Gruppe weitergehen? Natürlich könnte sie perspektivisch weniger Leute mobilisieren, wenn der Erfolg ausbleibt. "Allerdings stellen wir bei Klimaprotestbewegungen eine große Resistenz fest, trotz Rückschlägen. Ich glaube, die Gruppe wird ihre Aktionen noch lange fortführen." Eine Radikalisierung sieht er nicht. Die "Letzte Generation" habe sich dem zivilen Ungehorsam verschrieben. "Gewalt gegen Menschen schließe ich aus. Das würde die Bewegungen nicht näher an ihre Ziele bringen."

Mehrere Polizisten tragen einen Aktivisten von der Straße.
Mehrere Polizisten tragen einen Aktivisten von der Straße. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

"Letzte Generation": Demonstrant wird in Gewahrsam genommen

Als ihre Hand wieder frei ist, lässt sich Antonia von zwei Polizisten widerstandslos wegtragen. Sie erteilen ihr einen Platzverweis. Der Aktivist in der roten Jacke macht es ihnen weniger leicht. Er schreit und wirft sich immer wieder auf den Boden. Irgendwann reicht es den Beamten. Wie einen Rammbock tragen sie ihn weg. Er kommt in Gewahrsam. Der Mann ist 72.

Nach rund einer Stunde sind alle Fahrspuren wieder freigegeben. Die Autos donnern über sie hinweg, als sei nichts gewesen. Zwei Häufchen Maismehl, womit die Polizei die Klebspuren bedeckt hat, sind die letzten Zeugen des zivilen Widerstands.

Dieser Artikel erschien zuerst bei morgenpost.de.