12.06.2020


Verlorenes Jahr

Auf die Frage an den OECD-Bildungsexperten Andreas Schleicher, welche Note er den deutschen Schulen in Sachen Digitalisierung geben würde, wurde er auf einmal ganz sanft: Die deutschen Schulen stünden in Sachen Digitalisierung so sehr am Anfang, dass er keine Note vergeben wolle. „Niemand würde einen Grundschüler, der seine ersten Buchstaben lernt, erst einmal mit einer schlechten Note demotivieren.“

https://www.strafrecht-online.org/stn-schleicher

Und wie läuft es an den Universitäten? Die Studierenden jedenfalls scheinen geradezu erleichtert zu sein, dass es die Lehrenden mit tatkräftiger Unterstützung junger Menschen geschafft haben, eine eilig hergestellte ppt-Präsentation zu „vertonen“. Bislang hatten sie häufig in ihrem grenzenlosen Selbstbewusstsein auf von ihrem glanzvollen Vortrag ablenkende Begleitmaterialien völlig verzichtet.

Jetzt gilt es nur noch in diesem verkürzten Semester die Stunden bis zu den verdienten Sommerferien zu zählen und möglichst ein paar Extra-Semesterwochenstunden für den weit überobligationsmäßigen Einsatz herauszuholen, damit man sich gleich wieder ein faktisches Forschungssemester leisten kann. Und so droht nicht nur an Schulen, sondern auch an Universitäten ein verlorenes Jahr.

RH ist schon längst in einem Alter, in dem er eigentlich alles schon immer und auf jeden Fall besser wusste. Und so verweist er in diesem Kontext gerne auf ein zweiwöchiges Seminar in Görlitz, das er vor zwölf Jahren zur „Zukunft der Lehre“ konzipiert und durchgeführt hatte. Hierbei war es ihm nicht um kurzfristige und vergleichsweise problemlos prognostizierbare Veränderungen der Lehrlandschaft gegangen, sondern er wollte Zukunftsvisionen für das nächste Jahrhundert entwickeln. Klimaprognose statt Wettervorhersage.

Und so findet sich in der Ankündigung beispielsweise die folgende Passage: „Wohin die Reise gehen wird, hängt nicht nur von sich wandelnden Anforderungsprofilen ab, sondern beispielsweise auch von ökonomischen, soziologischen oder klimatischen Rahmenbedingungen. Werden wir das Haus nicht mehr verlassen und uns Lernmodule aus dem Netz ziehen […]?“ Als Impulsgeber sollten nicht nur die die üblichen Verdächtigten der Erziehungswissenschaft und Lernpsychologie (unter Einbeziehung der Neurobiologie und der Hirnforschung) dienen, sondern etwa auch die Life Sciences, die Kulturgeographie und die Informatik.

Eine Pandemie war zwar nicht ausdrücklich als Szenario für die Notwendigkeit des Umdenkens genannt, es ging aber durchaus um elementare Veränderungen der Rahmenbedingungen. Und es wurde ein spannendes Seminar.

Die ZEIT zeigte sich im Anschluss kurzzeitig an einer Geschichte interessiert, sprang aber dann doch wieder ab. War ihr offensichtlich nicht handfest genug. RH regte einen entsprechenden Workshop an seiner Universität an, der sogar zustande kam, aber flugs in eine Reparaturwerkstatt der gegenwärtigen Lehre umfunktioniert wurde und den örtlichen Mittelstand als Ratgeber ins Boot holte. RH schwieg betroffen.

Es gibt bereits Visionen auf den verschiedensten Feldern, welche Veränderungen die Welt nach Corona erfahren wird. Für die Lehre aber droht ein verlorenes Jahr, wenn die Überlegungen vornehmlich um Tablets, Zoom-Lizenzen und schnelles WLAN kreisen. Selbst das Einbeziehen sozialer Ungleichheiten würde nicht reichen. Ein interdisziplinärer und interkultureller Dialog über die Zukunft der Lehre ohne jede Zielvorgaben könnte helfen. Diese Zukunft würde irgendwann einmal beginnen, vielleicht. – Keine idealen Voraussetzungen für die Akzeptanz in einer Gesellschaft, der gebetsmühlenartig eingetrichtert wird, lediglich auf Sicht zu fahren, also jederzeit anhalten zu können. Das Potenzial zum Halt ist keine Vision.