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Von Corona lernen, heißt relativieren lernen
Die Medienberichterstattung ist in diesen Zeiten derart vom Coronavirus geprägt, dass die Vorstellung der Freiburger Kriminalstatistik vor etwa drei Wochen darin fast unterging. Dabei gab es aus polizeilicher Sicht viel Erfreuliches zu verkünden: Freiburg konnte nach 16 Jahren den Titel der kriminellsten Stadt Baden-Württembergs abgeben, die Zahl der Straftaten insgesamt ging im Vergleich zum Vorjahr um neun Prozent zurück, während gleichzeitig landesweit eine leichte Zunahme um 0,7 % zu verzeichnen war. Die sog. Straßenkriminalität sank um 7,4 %, Wohnungseinbrüche gar um 25,7 % im Vergleich zum Vorjahr.
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Niemand kam auch nur ansatzweise auf die Idee, die Aussagekraft dieser auf den ersten Blick eindrücklichen Zahlen zu hinterfragen oder anzuzweifeln. Im Gegenteil: Für die Freiburger Polizei und den Oberbürgermeister Horn gaben die Rückgänge Anlass, die im Jahr 2016 gestartete Sicherheitspartnerschaft zwischen Stadt und Land als vollen Erfolg zu feiern.
https://strafrecht-online.org/bz-interview-pks
Nun wird in diesen Tagen weit häufiger über die Zahl der Corona-Neuinfektionen berichtet, auch sie wird kleiner. Gleichwohl findet man in den Medien kaum einen Bericht, in dem die Rückgänge nicht relativiert werden. Das mag zum einen der Vorsicht geschuldet sein, die beim Hochfahren des öffentlichen Lebens an den Tag gelegt wird. So wird stets betont, die erreichten Zwischenerfolge im Kampf gegen das Virus seien „zerbrechlich“ und es dürfe kein Wiederanstieg der Infektionszahlen riskiert werden.
Zum anderen sind die Relativierungen aber auch Ausdruck eines Misstrauens gegenüber den Zahlen. Denn diese geben nicht die ganze Wirklichkeit über das Infektionsgeschehen wieder. Insbesondere die Anzahl der durchgeführten Tests und die Kriterien, nach denen die Auswahl der Testpersonen erfolgt, beeinflussen die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen massiv.
Dabei ist diese Erkenntnis, die nun gebetsmühlenartig von Virologinnen und Virologen wiederholt wird, weder neu noch ein Spezifikum der Coronazahlen. Vielmehr wird Statistiken im Allgemeinen häufig eine Absolutheit unterstellt, die diese nicht einhalten können. Sie sind in vielen Fällen eher Tätigkeitsberichte von Behörden als detailgetreue Abbildungen der Wirklichkeit.
Das gilt für die Statistik der Corona-Neuinfektionen in gleicher Weise wie für die Kriminalstatistik. Letztere erfasst lediglich das sog. Hellfeld der Kriminalität, also die polizeilich registrierten Verdachtsfälle. Und diese hängen ganz maßgeblich vom Anzeigeverhalten der Bevölkerung und – ebenso wie die gemeldeten Corona-Infektionen – dem Kontrollumfang der Behörden ab.
Sowohl für die Kriminologie als auch für die Virologie ist es daher eine Herausforderung, sich dem Dunkelfeld anzunähern, also das Ausmaß der unentdeckten Fälle zu ermitteln. In der Kriminologie werden hierfür klassischerweise Befragungen eingesetzt. Die Virologie wiederum bemüht seit einiger Zeit allerdings noch unzuverlässige Antikörpertests, um anhand eines Bevölkerungsausschnitts festzustellen, wie viele Personen bereits mit dem Virus infiziert waren.
In beiden Bereichen wird man davon ausgehen müssen, dass das Dunkelfeld erheblich größer als das Hellfeld ist. Das mag zwar zunächst bedrohlich erscheinen, ist bei genauerem Hinsehen jedoch kein Grund zur Besorgnis. Viele unerkannte Infektionen mit dem Coronavirus bedeuten zugleich eine größere Durchseuchung der Bevölkerung und damit einen höheren Anteil an vermutlich immunisierten Personen.
Und im Bereich der Kriminalität? Hier sollten wir uns an die Erkenntnis Durkheims erinnern, wonach abweichendes Verhalten nicht etwa in anarchische Zustände mündet, sondern – umgekehrt – einen konformitätsstabilisierenden Effekt hat. Wir brauchen gerade ein ausgeprägtes Dunkelfeld, damit Kriminalität ihren Ausnahmecharakter und ihre normstärkende Wirkung entfalten kann.
Wir können daher damit leben, dass das durch die Kriminalstatistik und die Infektionsmeldungen zur Verfügung stehende Zahlenmaterial keine umfassende Abbildung der Wirklichkeit darstellt. Umso wichtiger ist es, keine voreiligen Schlüsse hieraus zu ziehen. Den zurückhaltenden Umgang mit den Coronastatistiken sollten wir uns zum Beispiel nehmen und auf die Kriminalstatistiken übertragen.
Und so wäre beispielsweise zu thematisieren, ob die Kriminalität in Freiburg durch eine zunehmende Polizeipräsenz im öffentlichen Raum wirklich erfolgreich „bekämpft“ wurde oder sich lediglich vom öffentlichen in den privaten Raum und damit ins Dunkelfeld verlagert hat. Auch wenn dies den Jubelmeldungen zur Sicherheitspartnerschaft möglicherweise einen kleinen Dämpfer verpassen würde, wäre ein auf diese Weise erfolgender zurückhaltender Umgang mit Statistiken doch ein positiver Gewinn aus der Coronakrise.