Zurück

Voraussetzungen der Garantenstellung aus besonderem persönlichen Näheverhältnis (effektive Familiengemeinschaft)







Tags


Garantenstellung; Unterlassen; persönliches Näheverhältnis; Familiengemeinschaft; familiäre Verbundenheit; Eltern; Kinder; Geschwister; Ehe; Lebenspartnerschaft


Problemaufriss


Unechte Unterlassungsdelikte setzen nach § 13 I eine Garantenpflicht voraus. Eine solche kann sich aus einem persönlichen Näheverhältnis, insbesondere familiärer Verbundenheit ergeben. Voraussetzung ist grundsätzlich sowohl eine familienrechtliche Beziehung als formales Kriterium als auch eine tatsächliche familiäre Gemeinschaft als materielles Kriterium. Im Einzelnen sind Bestehen und Umfang der Garantenpflicht jedoch umstritten.


Problembehandlung


I. Eltern und Kinder


Gegenüber ihren minderjährigen Kindern haben Eltern eindeutig eine Schutzpflicht. Sie ist begrenzt durch das erzieherisch Vertretbare (Ermöglichen eigener Erfahrungen) und besteht auch gegenüber dem anderen Elternteil. Entsprechende Pflichten gelten auch für Großeltern, die tatsächlich die Obhut übernehmen, sowie für Adoptiv- und Pflegeeltern.


Streitig ist jedoch das Verhältnis des Vaters zu seinem nichtehelichen Kind.


Ansicht 1: Eine Garantenstellung besteht schon aufgrund der Verwandtschaft (Kühl Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 18 Rn. 53).


Kritik: Die Blutsverwandtschaft allein kann als Kriterium nicht ausreichen. Wenn der nichteheliche Vater nicht mit dem Kind zusammenlebt, übernimmt er keine Schutzfunktion und hat keine Kontrollherrschaft (Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 32 Rn. 41).


Ansicht 2: Eine Garantenpflicht besteht nur, wenn der Vater tatsächlich die Betreuung (mit-)übernimmt (Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 32 Rn. 41).


Kritik: Nach dem Zivilrecht kann der Vater durchaus Einfluss auf die Lebensgestaltung des nichtehelichen Kindes nehmen (Umgang und Sorgerecht, §§ 1684 I, 1626a I Nr.1 BGB). Auch das Verwandtschaftsverhältnis selbst legt eine Schutzpflicht nahe.


Umstritten ist auch, ob die Garantenpflicht gegenüber volljährigen Kindern, die nicht mehr im Haushalt leben, weiter besteht .


Ansicht 1: Eltern sind auch nach dem Auszug Beschützergaranten für ihre volljährigen Kinder, wenn das Verhältnis intakt ist (Rengier Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 50 Rn. 14; Schönke/Schröder/Bosch StGB, 30. Aufl. 2019, § 13 Rn. 19/20; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 50. Aufl. 2020, Rn. 1180).


Kritik: Allein die moralische Pflicht genügt nicht zur Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Die alleinige Ableitung einer Garantenstellung aus sittlichen Beistandspflichten widerspricht Art. 103 II GG. Gleiches gilt für die zivilrechtliche Beistandspflicht (§ 1618a BGB). In dieser Situation besteht keine Kontrollherrschaft mehr (Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 41).


Ansicht 2: Gegenüber selbstständig lebenden volljährigen Kindern ist eine Garantenpflicht der Eltern zu verneinen (Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 39 ff.; Leipziger Kommentar StGB/Weigend, 13. Aufl. 2020, § 13 Rn. 26).


Kritik: Nach dem Ende der Hausgemeinschaft besteht, sofern die Beziehung intakt ist, immer noch eine Familiengemeinschaft. Der Gesetzgeber hat die besondere Bedeutung enger Verwandtschaftsbeziehungen in §§ 1601, 1618a BGB anerkannt. Wenn es auf die Hilfe in akuter Gefahr ankommt, ist daher unabhängig von einer Kontrollherrschaft Hilfe zu leisten (Rengier Strafrecht AT, § 50 Rn. 14; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, Rn. 1180).


Ebenfalls streitig ist der umgekehrte Fall, die Pflicht der Kinder im Verhältnis zu ihren Eltern.


Ansicht 1: Eine Garantenstellung besteht unabhängig von einer Hausgemeinschaft (BGHSt 19, 167).


Kritik: Die Eltern sind in der Regel nicht konstitutionell abhängig von ihren Kindern, da sie keine Kontrollherrschaft ausüben. § 1618a BGB ist als programmatischer Satz zu verstehen, der keine strafrechtlich relevante Pflicht begründet (Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 42 f.).


Ansicht 2: Eine Garantenstellung ist nur begründet, wenn eine Lebensgemeinschaft besteht (Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 42 f.; LK/Weigend, § 13 Rn. 26).


Kritik: Die elementare Familienbeziehung spricht für eine Schutzpflicht in Gefahrensituationen. §§ 1618a, 1601 BGB normieren ebenfalls Beistandspflichten (s.o.).


II. Geschwister


Umstritten ist auch die Garantenstellung zwischen Geschwistern.


Ansicht 1: Eine Beistandspflicht besteht, wenn die Geschwister in häuslicher Gemeinschaft zusammenleben (Rengier Strafrecht AT, § 50 Rn. 16; Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 44, Wessels/Beulke/Satzger Rn. 1180).


Kritik: Eine etwaige Garantenstellung hat enge Voraussetzungen, da auch das Zivilrecht keine Beistandspflichten zwischen Geschwistern normiert.


Ansicht 2: Eine Garantenstellung ist nur anzunehmen, wenn ein tatsächliches Obhutsverhältnis besteht (LK/Weigend, § 13 Rn. 26; LG Kiel NStZ 2004, 157, 158 f.).


Kritik: Diese Auffassung berücksichtigt das Verwandtschaftsverhältnis nicht angemessen (Rengier Strafrecht AT, § 50 Rn. 16).


III. Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft


Ehepartner und Lebenspartner im Sinne des Lebenspartnerschaftsgesetzes sind füreinander grundsätzlich Beschützergaranten für den Schutz wichtiger Rechtsgüter.


Fraglich ist, unter welchen Voraussetzungen diese Garantenstellung entfällt. Die ganz überwiegende Meinung verlangt dafür, dass "sich ein Ehegatte vom anderen in der ernsthaften Absicht getrennt hat, die eheliche Lebensgemeinschaft nicht wiederherzustellen" (BGHSt 48, 301). Ebenso wenig wie bloße Streitigkeiten die Garantenpflicht beseitigen, lässt sie sich allein durch das formale Bestehen der Ehe nicht begründen; ein berechtigtes Vertrauen auf Beistand besteht bei dauerndem Getrenntleben nicht mehr (Rengier Strafrecht AT, § 50 Rn. 19 ff.). Die Trennung muss sich manifestiert haben, ist aber auch innerhalb desselben Hauses oder derselben Wohnung möglich.


Bedeutsam ist außerdem die Frage, in welchem Umfang die Garantenstellung zwischen Ehe- und Lebenspartnern gilt. Sie bezieht sich eindeutig auf den Schutz wichtiger Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Freiheit des Partners. Es besteht aber keine Verpflichtung, bei freiverantwortlicher Selbstschädigung einzuschreiten. Auch Straftaten des Partners müssen nicht verhindert werden. Denn die Ehe beruht nicht auf Bevormundung, sondern auf Partnerschaft (Kühl Strafrecht AT, § 18 Rn. 56 ff.).


IV. Sonstige familiäre Verbundenheit


Diskutiert wird auch eine Garantenpflicht unter Verlobten.


Ansicht 1: Das Verlöbnis selbst begründet keine Garantenstellung, da es erst das Versprechen einer gemeinsamen Lebensgestaltung darstellt (Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 52; Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 29. Abschnitt Rn. 65).


Kritik: Die Verlobten haben bewusst einen rechtlichen Rahmen für ihr Treueverhältnis gewählt (Sch/Sch/Bosch StGB, § 13 Rn. 18).


Ansicht 2: Auch unter Verlobten besteht eine Garantenpflicht (Sch/Sch/Bosch StGB, § 13 Rn. 18).


Kritik: Das jederzeitig einseitig auflösbare Verhältnis begründet für sich allein genommen noch keine ausreichende Bindung (Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 52).


V. Sonstige Verhältnisse


Eine Beschützergarantenstellung kommt ferner in Betracht bei besonderen Näheverhältnissen, die mit der familiären Verbundenheit vergleichbar sind, insbesondere beim eheähnlichen Zusammenleben Unverheirateter. Einfache Freundschaften oder Liebesverhältnisse reichen dafür jedoch nicht aus (Rengier Strafrecht AT, § 50 Rn. 25).















Die Seite wurde zuletzt am 17.4.2023 um 13.59 Uhr bearbeitet.



0 Kommentare.

Fragen und Anmerkungen: