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Rechtliche Behandlung des Erlaubnistatumstandsirrtums







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Erlaubnistatbestandsirrtum; Erlaubnistatumstandsirrtum; Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen; eingeschränkte Schuldtheorie; strenge Schuldtheorie; Irrtum


Problemaufriss


Wie wirkt es sich auf die Strafbarkeit aus, wenn der Täter denkt, gerechtfertigt zu sein, und sich einen Sachverhalt vorstellt, der unter einen anerkannten Rechtfertigungsgrund subsumiert werden könnte?


Beispiel (nach BGH NStZ 2012, 272):  "Hells Angels"-Mitglied A ist aufgrund von Gerüchten fest davon überzeugt, dass ein Mitglied der verfeindeten Gruppe "Bandidos" irgendein Mitglied der "Hells Angels" töten wolle. Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegen A soll dessen Wohnung durch ein vermummtes Sondereinsatzkommando durchsucht werden. Zu diesem Zwecke soll die Haustür des A aufgebrochen werden. A wacht morgens um 6 Uhr auf, weil er ein lautes Knacken an seiner Tür hört. Als er aus dem Fenster schaut, erkennt er aufgrund der Spezialausrüstung nicht, dass es sich um Polizisten handelt und denkt, es handele sich um den angekündigten Überfall der "Bandidos". Die Beamten geben sich trotz Zuruf des A nicht zu erkennen. Daraufhin schießt A zwei Mal durch die Tür und trifft den Polizeibeamten B tödlich. Als A bemerkte, dass es sich um Polizeibeamte handelte, ließ er sich widerstandslos festnehmen.


Der BGH-Fall ausführlich hier.


Problembehandlung


Im Beispielsfall hat A den Tatbestand des § 212 verwirklicht. Eine Rechtfertigung über die Notwehr kommt allerdings mangels Notwehrlage nicht in Betracht.


Bezüglich der Frage, wie dieser Irrtum über die Notwehrlage zu behandeln ist, haben sich mehrere Theorien herausgebildet. Diese Theorien widmen sich insbesondere der Frage, ob das Bewusstsein von der Rechtswidrigkeit der eigenen Handlung ein Element der Vorsatzebene oder aber erst ein Element der Schuldebene ist. Hieran anschließend stellt sich die Frage, ob die Irrtumsvorschriften des § 16 oder des § 17 Anwendung finden sollen.


Hinweis: In der Fallbearbeitung wird der Streit über die rechtliche Behandlung des Erlaubnistatumstandsirrtums nicht in der Rechtfertigung, sondern in der Schuld bzw. einem eigenen Prüfungspunkt vor der Schuld ("III. Erlaubnistatumstandsirrtum) behandelt.


I) Theorien, nach denen dem Erlaubnistatumstandsirrtum vorsatzausschließende Wirkung zukommt


Ansicht 1: Für die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen sind die Rechtfertigungsgründe Bestandteile eines Gesamt-Unrechtstatbestandes. Die einzelnen Rechtfertigungsvoraussetzungen werden als negative Tatbestandsmerkmale verstanden. Der Vorsatz des Täters muss daher u.a. auch das Nichtbestehen der negativen Tatbestandsmerkmale (Rechtfertigungsvoraussetzungen) umfassen. Ein Irrtum bezüglich Rechtfertigungsvoraussetzung (bspw. Notwehrlage) führt daher zu einer direkten Anwendung des § 16 I 1. Demgemäß entfiele der Vorsatz und es bliebe lediglich die Möglichkeit, aus einem Fahrlässigkeitsdelikt zu bestrafen (Schünemann GA 1985, 347).


1. Objektiver Tatbestand
a. Tathandlung und Erfolg (+)
b. Nichtrechtfertigung (+)
2. Subjektiver Tatbestand
a. Bzgl. 1.a. (+)
b. Bzgl. 1.b. (-) -> § 16 I direkt


Kritik:  Diese Ansicht verkennt die verschiedenartige Funktion des Tatbestandes als Typisierung des Unrechts und Rechtfertigungsgrund als Wegfall der Rechtswidrigkeit in einer Ausnahmesituation und ist daher mit dem Gesetz kaum vereinbar (Fischer StGB, 65. Aufl. 2018, § 16 Rn. 20).


Ansicht 2: In analoger Anwendung des § 16 I 1 kommt die eingeschränkte Schuldtheorie ebenfalls zu einem Vorsatzausschluss. Der Irrtum über die rechtfertigende Situation sei wie ein Tatumstandsirrtum zu behandeln, weil der Täter im Einklang mit den Normen des Rechts agieren wollte und ihm daher allenfalls eventuell Fahrlässigkeit vorzuwerfen wäre (Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 14 Rn. 55 ff.).


1. Tatbestand
a. objektiv (+)
b. subjektiv (Tatbestandsvorsatz i.S.v. Wissen und Wollen der Tatbestandsmerkmale) (+)
2. Rechtswidrigkeit objektiv (+)
3. Aber: Vorsatz entfällt nach § 16 I analog


Kritik: Im klassischen Fall des Tatumstandsirrtums erschließt sich dem Täter schon gar nicht die Warnfunktion des Strafdelikts, schließlich erfasst der Täter den Sachverhalt unzutreffend, weshalb er keine Beziehung zum Tatbestand und dessen Warnfunktion herstellen kann. Der Fall eines Erlaubnistatumstandsirrtums unterscheidet sich hiervon aber insoweit, als dass der Täter von der Warnfunktion des Strafdelikts durchaus erreicht wird. In dem Fall stellt sich die Frage, ob derjenige, den die Warnfunktion erreicht, nicht gehalten ist, genau zu prüfen, ob Rechtfertigungsvoraussetzungen vorliegen (Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 44. Aufl. 2015, § 11 Rn. 478)


Gesamtkritik: Die Theorien, die im Falle eines Erlaubnistatumstandsirrtums einen Vorsatzausschluss annehmen, sehen sich der Kritik ausgesetzt, dass sie dafür Strafbarkeitslücken in Kauf nehmen. Schließlich könne ein bösgläubiger Tatbeteiligter nicht zur Verantwortung gezogen werden, da die Tatbeteiligung eine vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat voraussetzt, vgl. §§ 26 f. Angesichts der dann möglichen Strafbarkeit des bösgläubigen Tatbeteiligten als mittelbarer Täter betrifft diese Lücke im Ergebnis aber nur Pflichtdelikte (Kühl Strafrecht AT, 8 Aufl. 2017, § 20, Rn. 142). Entscheidender ist daher, dass die Handlung des sich in einem Erlaubnistatumstandsirrtum Befindenden bei Annahme eines Vorsatzausschlusses kein Unrecht mehr darstellen würde. Der so Angegriffene hätte dann selbst kein Notwehrrecht mehr und dürfte sich des Angriffs nicht erwehren. Das Irrtumsrisiko ist aber dem Irrenden und nicht dem irrtümlich Angegriffenen aufzuerlegen. Dies spricht dafür, die unter dem Einfluss eines Erlaubnistatumstandsirrtums begangene Handlung als Unrecht zu werten und dem Irrtum lediglich entschuldigende Wirkung zukommen zu lassen.


II) Theorien, nach denen dem Erlaubnistatumstandsirrtum entschuldigende Wirkung zukommt


Ansicht 3: Nach der strengen Schuldtheorie sind nur solche Irrtümer, die sich auf die Merkmale eines Delikttypus beziehen, dem § 16 unterzuordnen. Insoweit ist der Erlaubnistatumstandsirrtum dem § 17 zuzuordnen (Welzel NJW 1952, 546).


1. Tatbestand
a. objektiv (+)
b. subjektiv (Tatbestandsvorsatz i.S.v. Wissen und Wollen der Tatbestandsmerkmale) (+)
2. Rechtswidrigkeit (+)
3. Schuld: Unrechtsbewusstsein nur (-), sofern § 17 (+)


Kritik: Der strengen Schuldtheorie wird vorgeworfen, dass sie einen tragenden Wertunterschied verkennt. Der klassische Fall des § 17 sei dadurch geprägt, dass der Handelnde die Dimensionen von Recht und Unrecht verkenne. Beim Erlaubnistatumstandsirrtum liegt jedoch keine fehlerhafte Rechtsauslegung vor. Vielmehr besteht eine Nähe zum Tatumstandsirrtum (§ 16), sodass zu Unrecht behauptet wird, der Täter würde bewusst verbotswidrig handeln (KühlStrafrecht AT, 8 Aufl. 2017, § 13 Rn. 75). Darüber hinaus wäre die Bestrafung aus dem Vorsatzdelikt (mit der Milderungsmöglichkeit nach §§ 17, 49) nicht angemessen (Münchener Kommentar StGB/Joecks StGB, Aufl. 3 2017, § 16 Rn. 135).


Ansicht 4: Die rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie verneint eine vorsatzausschließende Wirkung des Erlaubnistatumstandsirrtums. Sie unterscheidet sich im Ergebnis aber nicht von der eingeschränkten Schuldtheorie. Die rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie ist für die Kritik, die an der strengen Schuldtheorie geäußert wurde, empfänglich und sieht mit jener im Einklang auf Seiten des Täters nur einen verminderten Schuldgrad. Folgerichtig müsse die Tat in den Rechtsfolgen einer fahrlässigen Begehung – soweit strafbar – gleichgestellt werden. Dieses Ergebnis wird über eine Analogie zu § 16 I StGB erreicht, der sich aber nicht auf den Vorsatz, sondern lediglich auf die Vorsatzschuld beziehe. Die Vorsatzschuld als Element der Schuld wird aber als Voraussetzung für eine Bestrafung aus einem Vorsatzdelikt gewertet. Der Erlaubnistatumstandsirrtum wird von dieser Theorie aufgrund des geminderten Schuldgehalts des Täters lediglich in den Rechtsfolgen unter § 16 I 1 subsumiert. Diese Theorie nimmt für sich in Anspruch, dass sie die Bestrafung eines bösgläubigen Teilnehmers ermöglicht (Fischer StGB, 65. Aufl. 2018, § 16 Rn. 22d; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 46. Aufl. 2016, Rn. 704 f.). Die Rspr. hat sich wohl dieser Strömung angeschlossen. Zur Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass die Rspr. in ihren Formulierungen nicht immer stimmig einer Auffassung zuzuordnen ist. So formuliert etwa der BGH in NStZ 2014, 30 zur Behandlung des Erlaubnistatumstandsirrtums bei Putativnotwehrlage, "dass das Vorgehen des Täters so zu bewerten ist, wie wenn ein den Vorsatz ausschließender Irrtum über Tatumstände nach § 16 I vorläge".


1. Tatbestand
a. objektiv (+)
b. subjektiv (Tatbestandsvorsatz i.S.v. Wissen und Wollen der Tatbestandsmerkmale) (+)
2. Rechtswidrigkeit (+)
3. Schuld: Vorsatzschuld (-), -> Rechtsfolge des § 16 I analog


Kritik:  Das Argument für die Rechtsfolgenverweisung (Schließung von Strafbarkeitslücken), geht am eigentlichen Streitgegenstand vorbei. Ob der tatbestandsmäßige Vorsatz für eine Teilnahme am Delikt genügt oder nicht, ist keine Frage der Irrtumslehre, sondern der Teilnahmelehre zu überlassen. Eine Irrtumstheorie, die zur Lösung eines Problems der Täterschaft und Teilnahme herangezogen werden muss, verdient daher keine Zustimmung. Darüber hinaus wäre eine unterschiedliche Handhabung des Vorsatzes als Tatbestands- bzw. Unrechtsvorsatz nur möglich, sofern dies stringent  Anwendung finden würde (Roxin Strafrecht AT, 4. Aufl. 2006, § 14 Rn. 74).















Die Seite wurde zuletzt am 17.7.2023 um 22.14 Uhr bearbeitet.



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