Abstimmung
Voting zur Zurückdrängung des Jugendstrafrechts
Mit einer annähernden Zwei-Drittel-Mehrheit von 64,4 % bei insgesamt 146 Beteiligungen sprachen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der jüngsten Umfrage gegen eine politische Absichtserklärung aus, auf Straftaten von Heranwachsenden (18-21 Jahre) künftig grundsätzlich das Erwachsenenstrafrecht anzuwenden. Gegenwärtig nimmt die in ihren Voraussetzungen nicht unkomplizierte Norm des § 105 Abs. 1 JGG eine Weichenstellung vor, die bei einer vorliegenden persönlichen Reifeverzögerung des Täters bzw. einer sich als typische Jugendverfehlung darstellenden Tat den Weg ins Jugendstrafrecht weist.
Wenngleich noch keine einheitlichen und unumstrittenen Kriterienkataloge existieren, um die Voraussetzungen nachzuweisen, sieht die gerichtliche Praxis sie in der Mehrheit der Fälle als gegeben an und verurteilt Heranwachsende zu 60 % nach Jugendstrafrecht, wobei die Quote bei den quantitativ selteneren schweren Delikten wie Raub und räuberischer Erpressung gar 90 % beträgt. In den Augen der süddeutschen Justizminister Guido Wolf (Baden-Württemberg) und Winfried Bausback (Bayern) aufgrund des umfangreichen Rechte- und Pflichtenkreis eines Volljährigen ein untragbares Missverhältnis , das durch eine Neufassung des § 105 Abs. 1 JGG zu korrigieren sei.
Nahezu sämtliche wissenschaftlichen Erkenntnisse widersprechen allerdings ihrem an starre Altersgrenzen gebundenen Verständnis von strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Die Kriminologie weist auch die Delinquenz von Heranwachsenden in ihrer Gesamtheit als überwiegend bagatellartig und episodenhaft aus und warnt unter dem Schlagwort der sekundären Devianz (hierzu Lemert, Der Begriff der sekundären Devianz, in: Klimke/Legnaro (Hrsg.), Kriminologische Grundlagentexte, 2016, S. 125 ff.) vor Kriminalisierungsprozessen. Neurologisch lassen sich in den für Impulskontrolle verantwortlichen Hirnarealen noch bis ins 24. Lebensjahr Entwicklungen feststellen. Und Entwicklungspsychologie und Soziologie beschreiben den Lebensabschnitt rund um das 18. Lebensjahr aufgrund von ersten Berufserfahrungen, Ortswechseln und Loslösungsprozessen als besonders sensible Phase der Identitätsbildung.
All das unterstreicht die Bedeutung individuell ausgerichteter strafrechtlicher Reaktionen auf die Delinquenz von Heranwachsenden und spricht dafür, das Zeitfenster für einen möglichen Rückgriff auf das differenziertere Sanktionssystem des Jugendstrafrechts mindestens bis zum 21. Lebensjahr offen zu halten. Wir reihen uns daher in die Mehrheit der Abstimmenden ein, fordern allerdings auch, die normativen Vorgaben des § 105 Abs. 1 JGG mittels transparenter und forschungsbasierter Kriterien operationalisierbar zu gestalten, um die teilweise beträchtlichen Unterschiede in der Anwendung zwischen den Bundesländern zu reduzieren.
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