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Corona, soziale Ungleichheit und fehlende Daten
Mittlerweile haben es langsam etliche kapiert, wie hohl die Behauptung ist, das Virus mache keine Unterschiede zwischen arm und reich. Daran stimmt allenfalls der Ausgangspunkt, dass es vermutlich die gut betuchten Reiselustigen waren, die das Virus in die Welt trugen, das fortan bei den sozial Schwachen, den Kranken, den Menschen, die sich kein Homeoffice leisten können, und den Bevölkerungsgruppen, die unter beengten Wohnverhältnissen leiden, wütete. Und daher eben häufig bei Menschen mit Migrationshintergrund. Das und nur das ist eine zulässige Ableitung, nicht etwa das abwegige Gegenteil.
Jetzt also haben es sich die Wohlhabenden einmal mehr fein eingerichtet und sie beginnen die nächsten Reisen zu ihrem Landsitz zu planen oder befinden sich längst auf diesem. Ihr Reichtum wird nach der Krise weiter gewachsen sein.
Das alles sind weitgehend plausible Thesen, statistisches Material hierzu fehlt in Deutschland leider überwiegend. In Großbritannien hingegen sind von Anfang an die Effekte der Pandemie auf sozial benachteilte Bevölkerungsgruppen genau erfasst worden.
Der Soziologe Oliver Nachtwey erklärt diese Diskrepanz mit der fehlenden Bereitschaft in Deutschland, die Existenz von Klassen zu akzeptieren, obwohl sie doch augenscheinlich sind. Die gesellschaftliche Selbstwahrnehmung als Klassengesellschaft sei bereits seit dem Beginn des industriellen Kapitalismus bekämpft worden. Die Systemkonkurrenz zur DDR haben diese Tendenz der Realitätsverweigerung weiter befördert.
Auch wenn das Bild von der klassenlosen Mittelstandsgesellschaft ab den Achtzigerjahren Risse bekam, sprach der einflussreiche Soziologe Ulrich Beck angesichts Verbesserungen der sozialen Lage noch immer von einer Gesellschaft „jenseits von Stand und Klasse“.
Wenn es also keine Klassengesellschaft gibt, dann muss man sich auch keine Gedanken darüber machen, auch die ärmeren Menschen bei den Impfungen zu priorisieren.
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