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Die Todeszone des Strafbaren
HochschullehrerInnen lassen sich ihre Gutachten in aller Regel fürstlich entlohnen. Es gibt unter ihnen einige, bei denen man sich sogar ein wenig unsicher ist, ob sie eigentlich nebenher auch irgendetwas an der Universität machen, Lehre zum Beispiel. Gewinner der Digitalisierung sind sie allemal.
Volker Erb gehört nicht zu ihnen. Er ist im guten Sinne ein klassischer Hochschullehrer, für den sogar die neue Rechtschreibung etwas Bedrohliches hat, deren Einführung ein sattes Vierteljahrhundert zurückliegt.
Vielleicht ist er im sympathischen Sinne auch nicht ganz von dieser Welt, wenn er sich betrübt darüber zeigt, dass seine im Dienst der Gesellschaft entwickelten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die er an das Kanzleramt und das Bundesministerium für Gesundheit geschickt hatte, doch tatsächlich unbeantwortet geblieben seien. Dabei hatte er doch nur freundlich darauf hinweisen wollen, die derzeitige Praxis der Impfstoffbeschaffung könne für Angela Merkel und Jens Spahn als (versuchter) Totschlag durch Unterlassen oder jedenfalls als (versuchte) Körperverletzung durch Unterlassen zu bewerten sein.
Und so entschloss er sich, sein Gutachten zu Erfolg, Kausalität, Abwendungsmöglichkeit, Garantenstellung und Vorsatz ganz modern sogar, nämlich open source, auf seiner Webpräsenz zu Verfügung zu stellen, auf dass ein jeder Rechtschaffene sich sein Urteil bilden möge.
https://strafrecht-online.org/erb-gutachten
In diesem Kontext lesen wir des Weiteren voller Empörung, Professor Ogorek habe eine medienöffentliche Diskussion „über die Frage einer strafbewehrten Pflicht von Regierungspolitikern zur maximalen Beschleunigung der COVID-19-Impfungen in Deutschland“ verweigert. Hiernach sollte sich doch jeder zum Duell Aufgeforderte die Finger schlecken. Und wir reden hier von Markus Ogorek, der sich auf seiner Webpräsenz mit dem folgenden Hinweis als ein allzeit bereiter Profi sogar mit einer Art Pressesprecher erweist:
„Zur Vermittlung eines Interviews, O-Tons oder Hintergrundgesprächs mit Professor Ogorek wenden sich bitte, auch kurzfristig, an Herrn Luca Manns. Ein Pressefoto des Institutsdirektors finden Sie hier.“
https://strafrecht-online.org/koeln-ogorek
Egal, versuchen wir uns eben an der Frage, was von der Warnung vor manifesten strafrechtlichen Risiken zu halten ist. Ganz so sicher sind wir uns bei einer zunächst einmal allein der Logik des Gutachtens folgenden Betrachtung nicht, warum der Impfstoffexport in die EU und die Schweiz hinzunehmen sei. Schadet dies einer maximalen Beschleunigung nicht doch ein wenig?
Der Knackpunkt der Argumentation scheint dann aber doch eher der durchaus thematisierte zu sein, nämlich ob es nicht ein politischer Gestaltungsspielraum der Entscheidungsträger verbiete, den strafrechtlichen Knüppel zumindest drohend aus dem Sack zu holen. Dieser Gestaltungsspielraum ist zudem in der EU normativ vorstrukturiert. Das sei nicht der Fall, so Erb, und er wiederholt sein Argument trotz gedrängter Kürze des Gutachtens gleich mehrfach: Wer es in der Coronapandemie als alternativlos ansehe, über viele Monate hinweg Grundrechte flächendeckend einzuschränken, der müsse umgekehrt zur erwähnten maximalen Beschleunigung bei den Impfungen verpflichtet sein. „Hiernach muß die Bundesregierung bei der Beschaffung eines lebensrettenden Impfstoffs notfalls in vergleichbar robuster Weise agieren, wie sie das beim „Lockdown“ tut.“ [S. 3]
Solche reziproken Argumentationsspiele haben auch in der Rechtswissenschaft etwas durchaus Faszinierendes, sie sollten aber schon stimmen: Und wir vermögen einer bereichsweise verfassungsrechtlich bedenklichen Einschränkung der Freiheitsrechte nun definitiv nicht abzuringen, dass im Gegenzug (gerechterweise?) das Strafrecht eben zu intensivieren sei. Ganz davon abgesehen, dass die von Erb geforderte robuste Vorgehensweise offensichtlich verlangt, rechtliche Hürden einer maximalen Beschleunigung im Dienste der Gesundheit einfach mal ohne viel Federlesen einzureißen. Schließlich würde einmal mehr und durchaus typischerweise die Rolle des Strafrechts als ultima ratio verkannt.
Aber wenn wir schon uns schon einmal in einer Art Strafrechtsrausch befinden: Könnten wir nicht die von Melanie Brinkmann („Der Wettlauf ist längst verloren!“) wegen des zögerlichen Herbst-Lockdowns errechneten 30.000 Toten auch der Bundeskanzlerin anlasten? Denn immerhin hatte ihr Brinkmann Mitte Oktober in einem Telefonat persönlich mitgeteilt, es sei bereits zwölf Uhr und nicht fünf vor.
https://strafrecht-online.org/focus-brinkmann-zwoelf
Aber wie ist es zu bewerten, dass die mahnende Stimme von Merkel offensichtlich unter den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten nicht gehört wurde? Ein wahres weiteres Fest für die Strafrechtsdogmatik. Volker Erb, bitte übernehmen Sie!