02.02.2016


Kein „Recht zum Schusswaffengebrauch 2.0“

Juristen wird mitunter nachgesagt, sie seien bloße „Paragrafenreiter“ und die Früchte ihrer Subsumtionsbemühungen ließen sich mit dem „gesunden Menschenverstand“ kaum noch nachvollziehen. Tatsächlich lernt man im Laufe des Studiums durchaus, ein juristisches „Bauchgefühl“ (Judiz) zu entwickeln und die gewonnenen Rechtserkenntnisse daran zu messen. Dann stellt man fest, dass die korrekte juristische Subsumtion in aller Regel zu Ergebnissen führt, die auch mit dem „Rechtsgefühl“ zu vereinbaren sind. Ist dies einmal anders, liegt es nahe, dass man dogmatisch unsauber gearbeitet hat.

Untersucht man die kürzlich geäußerte These, dass Polizisten einen illegalen Grenzübertritt von Flüchtlingen notfalls auch mit dem Gebrauch der Schusswaffe unterbinden dürften, führt auch hier die dogmatische Analyse zu dem gleichen Ergebnis, welches das juristische „Bauchgefühl“ schon vorgibt: Natürlich ist dies nicht der Fall!  

Für die weiteren Überlegungen spielt es zunächst keine Rolle, ob sich die Flüchtlinge beim Grenzübertritt selbst gem. § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG wegen sog. illegaler Einreise strafbar machen. Denn selbst bei einem unterstellten Verstoß gegen die genannte Strafnorm ist der Einsatz von Schusswaffen – allein zur Verhinderung der Einreise – nicht zu legitimieren:

Eine Befugnis zum Gebrauch von Schusswaffen soll sich zwar vorgeblich §§ 10 f. des „Gesetzes über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes“ (UZwG) entnehmen lassen. Indes scheidet § 10 UZwG als Ermächtigungsgrundlage bereits offensichtlich aus: Denn die Vorschrift knüpft zwar verschiedentlich an die Begehung „rechtswidriger Taten“ an. Einschränkend muss es sich nach dem Wortlaut der besagten Vorschrift insofern allerdings um Verbrechen oder um solche Vergehen handeln, die „unter Anwendung oder Mitführung von Schusswaffen oder Sprengstoffen begangen werden“ sollen. Das schlichte illegale Einreisen wird – als Vergehen i.S.d. § 12 Abs. 2 StGB – also nicht davon erfasst.

Auch § 11 Abs. 1 UZwG vermag nur auf einen flüchtigen Blick hin einen Schusswaffeneinsatz gegen Flüchtlinge zu legitimieren. Dort heißt es, dass Vollzugsbeamte im sog. Grenzdienst Schusswaffen auch gegen Personen gebrauchen dürfen, sofern sich diese der „wiederholten Weisung, zu halten oder die Überprüfung ihrer Person oder der etwa mitgeführten Beförderungsmittel und Gegenstände zu dulden, durch die Flucht zu entziehen versuchen.“  Selbst wenn darüber hinaus die einschränkenden Voraussetzungen des § 12 UZwG erfüllt sein sollten (Erfolglosigkeit anderer Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs; Waffenwirkung gegen Sachen ist nicht ausreichend etc.) scheitert der Schusswaffengebrauch in diesem Fall aber unproblematisch an einer weiteren Voraussetzung: 

So steht die Anwendung jeglicher Gewalt durch Hoheitsträger unter dem verfassungsrechtlichen Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit ( Art. 20 Abs. 3 GG ). Eine ausdrückliche Positivierung findet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zudem an verschiedenen Stellen im einfachen Gesetzesrecht, so etwa auch in § 4 UZwG . Unabhängig von den genannten Voraussetzungen der §§ 11 ff. UZwG steht also der Waffeneinsatz stets unter der Prämisse der Verhältnismäßigkeit. 

Vor diesem Hintergrund stellt sich der Einsatz von Schusswaffen auf Flüchtlinge, um diese an einem bloßen Grenzübertritt zu hindern, zweifellos als unproportional und somit unverhältnismäßig im engeren Sinne dar. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob sich die Betroffenen tatsächlich auf das Asylgrundrecht ( Art. 16a GG ) berufen können, oder ob ihnen dies aufgrund des – kritikwürdigen – Konstrukts der „sicheren Drittstaaten“ (vgl. Art. 16a Abs. 2 GG) oder aus anderen Gründen (z.B. im Einzelfall das Nichtvorliegen von politischer Verfolgung) versagt ist. Denn die allenfalls drohende Verwirklichung des Tatbestandes der illegalen Einreise stellt ein derart geringes „Übel“ dar – deutlich wird dies auch am sehr geringen Strafrahmen des § 95 AufenthG –, dass sich die ernsthafte Verletzung oder gar drohende Tötung eines Menschen durch den Einsatz von Schusswaffen als völlig überzogene und damit unverhältnismäßige Reaktion darstellt.

Man sieht also: Der schlichte Verweis auf § 11 UZwG verkennt, dass Juristen gerade keine „Paragrafenreiter“ sind, sondern dass das Recht auch durch viele übergreifende Rechtsprinzipien geprägt wird.

Im Übrigen hatte die höchstrichterliche Rechtsprechung bereits vor längerer Zeit in Bezug auf „Republikflüchtlinge“ der ehemaligen DDR eindeutig klargestellt, dass deren Tötung nicht zu legitimieren war. Für den Fall von einreisenden Flüchtlingen gilt wie gesehen nichts anderes: Es gibt also insofern auch kein „Recht zum Schusswaffengebrauch 2.0“.