07.10.2021


Soziale Medien als Triebfeder physischer Gewalt?

Was im materiellen Strafrecht häufig nicht mehr als die knappe Feststellung von Offensichtlichem ist, kann Kriminologinnen und Kriminologen vor eine unlösbare Herausforderung stellen. Die Rede ist von der Feststellung eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs, kurz: von Kausalitäten.

Insbesondere seitens der Rechtspolitik werden an die Kriminologie regelmäßig vorhandene Kausalitätsannahmen herangetragen. Eine der bekanntesten ist wohl jene, der Konsum von Alkohol führe zu Straftaten. Würde man dieser Hypothese folgen, erschienen Alkoholverkaufsverbote als probates Mittel der Kriminalitätsprävention.

Während sich die Kriminologie in diesem Zusammenhang allenfalls auf den Standpunkt stellt, Alkohol als einen von vielen erleichternden Faktoren zu akzeptieren, sind es in letzter Zeit vor allem die Wirtschaftswissenschaften, die meinen, aus ihren Studien Kausalitäten ableiten zu können. Dabei liegt der Fokus allerdings nicht auf den konkreten Wirkmechanismen im Einzelfall, sondern vielmehr auf den größeren Zusammenhängen, beispielsweise zwischen der Existenz eines Alkoholverkaufsverbots und den registrierten Körperverletzungsdelikten in bestimmten räumlichen Bereichen (zu einer kritischen Einschätzung RH in: FS für Hans-Jörg Albrecht [2021], S. 379 ff.).

https://strafrecht-online.org/alkoholverkaufsverbot

Die solchen Studien immer zugrunde liegende Suche nach „natürlichen Experimenten“, also Sachverhalten, die einen Vorher-Nachher-Vergleich zulassen, ohne dabei Probandinnen und Probanden mehr oder weniger aktiv zu Straftaten herauszufordern, hat durchaus etwas Erfrischendes für interessierte Kriminologinnen und Kriminologen.

Das gilt auch für den Ansatz der Ökonomen Müller und Schwarz zur Ermittlung möglicher Zusammenhänge zwischen rechten Hasspostings im Internet und Übergriffen auf Geflüchtete in Deutschland. Als Gradmesser für die in bestimmten Regionen bestehenden Ressentiments gegenüber Geflüchteten fungierte in der Studie die AfD-Facebook-Seite und die Zahl der dort geposteten, geteilten und kommentierten Beiträge der AfD-Administratorinnen und  Administratoren sowie Nutzerinnen und Nutzer. Wo ein Anstieg entsprechender Beiträge zu verzeichnen war, stieg auch die Zahl der gegen Geflüchtete gerichteten Hassverbrechen.

https://sz.de/1.5398425

Der quasi-experimentelle Rahmen kommt zustande, wenn man deutschlandweite Ausfälle von Facebook sowie lokale Internetstörungen in die Betrachtung einbezieht. Wäre das Treiben auf der Facebook-Seite der AfD ohne Einfluss auf die Zahl der Übergriffe gegen Geflüchtete, dürften entsprechende Ausfälle auf die physische Hasskriminalität keine Auswirkungen haben. Das Gegenteil scheint jedoch der Fall zu sein: Der temporäre deutschlandweite Ausfall der Facebook-Server führt, so die Studie, tatsächlich dazu, dass die Übergriffe auf Geflüchtete zurückgehen, insbesondere in Regionen, die sich sonst durch eine hohe Beteiligung auf der AfD-Facebook-Seite auszeichnen.

Ein ähnlicher Befund ergab die Studie in Konstellationen vollständiger Internetausfälle von mindestens 24 Stunden an bestimmten Orten. 313 derartige Ereignisse wurden in die Studie einbezogen. Selbst bei einer deutschlandweit hohen Zahl flüchtlingsfeindlicher Beiträge auf der Facebook-Seite der AfD, mit der eine deutschlandweit hohe Zahl von flüchtlingsfeindlichen Angriffen einherging, verschwand dieser Effekt in Gemeinden, in denen das Internet ausgefallen war.

Schwarz und Müller betonen in der Folge, hiermit solle keineswegs behauptet werden, soziale Medien würden Hassverbrechen gegenüber Geflüchteten „out of thin air“ verursachen. Ganz im Sinne des kriminologischen Forschungsstandes zu den Wechselwirkungen zwischen Medienkonsum und Gewalt begnügen sich die Autoren mit der Einordnung von sozialen Medien als auf bereits vorhandene Ressentiments verstärkend wirkender Faktor.

Die Studie fällt in eine Zeit, in der nicht nur die wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zu sozialen Medien und Hasskriminalität zugenommen haben. Auch der Gesetzgeber ist in diesem Bereich in den vergangenen Jahren mehrfach tätig geworden. 2017 trat das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) in Kraft, das für die Betreiber von sozialen Netzwerken bestimmte (bußgeldbewehrte) Lösch- und Berichtspflichten vorsieht. Erst kürzlich, im Juli 2021, ist das Gesetzespaket zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität in Kraft getreten, das neben erweiterten Meldepflichten für Anbieter sozialer Netzwerke sowie Strafverfolgungserleichterungen auch einige Strafschärfungen in diesem Bereich enthält.

Derartigen Reformen dürfte die Studie auf den ersten Blick genügend Argumentationsmaterial an die Hand geben. Die verschärfte Kriminalisierung von Hassrede im Internet müsste nicht länger auf die Gefährdung eines schwer fassbaren „öffentlichen Friedens“ oder der wie auch immer konstruierten „Verletzung“ der Ehre gestützt werden, sondern man könnte auf die manifesten Folgen von Hassrede in Form der Förderung physischer Gewalt verweisen.

Doch zeigt sich gerade bei dem Versuch, der Studie konkrete rechtspolitische Ableitungen zu entnehmen, die Schwäche derartiger Ansätze, die von der Ökonomie an die Kriminologie herangetragen werden: Der bloße Zahlenvergleich auf Makroebene gibt noch keine Aufschlüsse über die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auf der Mikroebene. Mit anderen Worten wird die Frage nach Kausalitäten über ein solches Studiendesign nicht beantwortet. Warum also Internetausfällen an bestimmten Orten und Rückgänge flüchtlingsfeindlicher Straftaten zusammenfallen, bleibt eine „Black Box“ und gibt deshalb keinen Anhaltspunkt für eine mögliche (gesetzgeberische) Intervention. Eine solche kann wohl kaum in einem Abschalten von sozialen Netzwerken oder gar des Internets liegen.

Stattdessen birgt die Studie die Gefahr, einer immer weiteren Vorverlagerung der Strafbarkeit Vorschub zu leisten. Sie lässt Reformen wie die kürzlich unter Verweis auf Hasskriminalität im Internet erfolgte Erweiterung des § 140 StGB um das Billigen einer noch nicht begangenen Straftat sinnvoll erscheinen und nimmt dabei keine Rücksicht auf die Grenzen eines rechtsstaatlichen Strafrechts.

Damit ist ein Grundproblem des steigenden Einflusses von Ökonomen auf die Kriminalpolitik angesprochen: Für den Schaden, den das Strafrecht als Instrument des subsidiären Rechtsgüterschutzes nimmt, wenn der gesetzgeberische Exzess im Bereich der Hasskriminalität im Internet anhält, ist im Rahmen einer ökonomischen Analyse kein Platz.

Es bleibt somit die Aufgabe der Strafrechtswissenschaft, die aus der Studie zu ziehenden Konsequenzen kritisch zu beurteilen. So scheint es angezeigt, die Netzwerkbetreiber in die Pflicht zu nehmen, wie es ursprünglich auch im NetzDG vorgesehen war. „Löschen statt Strafen“ bei Postings, deren Auswirkungen auf die reale Welt sich in der Mehrzahl der Fälle nicht bestimmen lassen, sollte das Credo sein. Hiervon scheint sich der Gesetzgeber mit dem Gesetzespaket gegen Hasskriminalität aber leider verabschiedet zu haben.