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Aufwachen
Nur ganz allmählich scheint die Gesellschaft aus einer Art Schockzustand zu erwachen, in den sie die Virologen im Verein mit ihren Souschefs versetzt hatten. Und weil alle wie gebannt auf irgendwelche Zahlen starrten, die gelegentlich durch noch wichtigere ersetzt wurden, die eindrucksvoll zeigten, dass man sich auf ganz dünnem Eis bewege, machte die Rechtswissenschaft gleich einmal solidarisch mit – und verstummte. Natürlich beziehen wir selbstbewusst diese aufscheinende Kritik nicht auf uns, die Kriminalität hatte sich als Forschungsgegenstand ja in gleicher Weise aus der Gesellschaft verabschiedet wie die Herzkranken aus den Kliniken.
Langsam kehrt aber auch das Leben in die Profession der Rechtswissenschaft zurück. Was läge da näher, als sich zunächst einmal der geheimnisvollen Triage zuzuwenden? Wie also sollten Retter die Zuteilung von Beatmungsgeräten in einer Mangellage im Einvernehmen mit Kant vornehmen? – Moment, es gibt derzeit keine derart prekäre Situation, Tausende von Geräten stehen auf Vorhalt bereit? Egal, man wird diesen Gedanken ja wohl im Einvernehmen mit Christian Drosten einmal durchspielen dürfen. Auch das Brett des Karneades hat weite Teile der Strafrechtsvorlesung, wenngleich nur einen Ertrinkenden, getragen. Und überhaupt gab es doch in Italien entsprechende Fälle. Können wir unserem geschätzten EU-Partner doch wenigstens auf diese Weise wertvolle Hilfe zukommen lassen, nachdem es ansonsten bei einigen wenigen medial groß vermarkteten Alibi-Intensivbetten geblieben war.
Das beliebte Wortspiel mit der nicht zu erlangenden Sicherheit und der mit Sicherheit verloren gehenden Freiheit war natürlich gleichfalls bald zur Hand und brachte im Bonmot-Ranking Punkte.
Aber ansonsten hakte es mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip doch gewaltig. Es war einfach alles schlicht alternativlos, der Tod einer jeden Abwägung. Womit wir beim vorgeblichen Grund für den Ausfall dieses grundlegenden verfassungsrechtlichen Prinzips wären: Wenn es um Leben und Tod geht, Höchstwerte eben, müssten all die anderen lässlichen Grundrechte eben tunlichst einmal in den Hintergrund treten. Die Formulierung mit dem „Gehen“ ist dabei sogar ganz passend, Totschlagsargumente kommen gern ein wenig grobschlächtig daher.
Doch blicken wir auf das Aufwachen: Oliver Lepsius war es, der im Verfassungsblog den Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie angeprangert hat. Er sieht den Zweck der vielfältigen Grundrechtseingriffe zutreffend nicht pauschal in der Gesundheit, sondern allein in der Vermeidung der Überforderung des Gesundheitssystems. Über diese Korrektur der Stellschraube erlangen die drei Ausprägungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips, die Geeignetheit, die Erforderlichkeit und die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, wieder eine hinreichende den Staat beschränkende Kraft.
Die jeweils vorläufig und differenziert zu erfolgende Bewertung der möglichen Verlaufsszenarien überantwortet Lepsius den politisch verantwortlichen Institutionen und nicht etwa den sog. Fachwissenschaften.
Selbst wenn man sich einmal von letzteren emanzipiert hat, wird es in der Einschätzung von Lepsius kaum besser: Die scheinbar zupackende Delegation an die Exekutive wird ein weiteres Mal als alternativlos angesehen, der tendenziell grundrechtsschonende Einfluss des Föderalismus als nicht hinzunehmender Flickenteppich gebrandmarkt.
Wer sich schließlich für Freiheitseinschränkungen mit banalen Kausalitätserwägungen in dem Sinne bescheide, das Herunterfahren des kommerziellen und sozialen Lebens reduziere die Kontakte, ohne diese gebe es keine Infektionen und damit komme es zu keiner Überforderung des Gesundheitssystems, beleidige – so Lepsius – zentrale Erkenntnisse der Zurechnungslehre. Sie verlange für eine Verantwortlichkeit eben mehr als diesen Kausalmonismus, der Schutzzweck der Norm, die Risikoerhöhung und die Pflichtverletzung fungierten insoweit als anerkannte und die Kausalität einschränkende Kriterien. Sie und ihr differenzierendes Potenzial blieben derzeit allesamt auf der Strecke. Mit einer kapazitätsgerechten Steuerung des Pandemieverlaufs habe dies nichts zu tun.
Sein Fazit: „Wir stehen vor Hygienemaßnahmen ganz anderer Art: Der Rechtsstaat ist schwer beschmutzt. Die rechtsstaatliche Hygiene muss dringend wieder hergestellt werden, sonst droht hier das größte Infektionsrisiko.“ Aufwachen.