05.06.2020


Schwindende Kriminalitätsgewissheiten

Mit zunehmender Dauer der Corona-Pandemie wächst der Wunsch nach Normalität in der Bevölkerung immer mehr und wird der Ruf nach Lockerungen der noch bestehenden Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens lauter. So richtig will man sich mit der neuen Normalität nicht anfreunden. Zu viele Koordinaten wurden in den vergangenen Monaten verschoben, zu viele Gewissheiten sind weggebrochen.

Eine dieser ehemaligen Konstanten bestand in der Kriminalitätsbelastung bestimmter gesellschaftlicher oder räumlicher Bereiche. In Bussen und Bahnen wurde schwarzgefahren, in Kaufhäusern geklaut, in 30er-Zonen die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht eingehalten – und im Freiburger Bermudadreieck war an Wochenendnächten die Gewaltkriminalität zu Hause.

Man hatte sich vor der Corona-Pandemie in diesem Zustand eingerichtet. Abweichendes Verhalten wurde zwar nicht toleriert, aber als Teil der gesellschaftlichen Normalität hingenommen. Nun ist in der Pandemie auch diese Gewissheit ins Wanken geraten.

Angesichts sinkender Fahrgastzahlen im ÖPNV und einer geringeren Kontrolldichte sind in den vergangenen Wochen erheblich weniger Beförderungserschleichungen registriert worden. Durch die vorübergehende Schließung vieler Ladengeschäfte fehlten die Tatgelegenheiten für Ladendiebstähle. Und die Attraktivität der Freiburger Altstadt hat aufgrund des Dichtmachens von Geschäften, Kneipen und Diskotheken stark gelitten, weshalb mangels Menschen die Gewaltkriminalität weitgehend ausblieb.

Wie so häufig lernt man die Dinge erst schätzen, wenn sie nicht mehr da sind. Kurioserweise gilt das auch für den Bereich abweichenden Verhaltens. So berichtete die Badische Zeitung vergangene Woche voller Entsetzen, die Corona-Krise reiße ein großes Loch in den Haushalt der Stadt, was nicht zuletzt an fehlenden Einnahmen durch Bußgelder liege. 3,1 Mio. Euro fehlen unter anderem deshalb, weil die Blitzer in der Stadt erheblich weniger Geschwindigkeitsübertretungen als noch im Vorjahr registrierten.

https://strafrecht-online.org/bz-haushaltsloch

Ganz ähnlich sieht es in der Freiburger Altstadt aus. Bereits vor Jahren wurden die Planungen für die Einführung von Videoüberwachungstechnik im Bermudadreieck und der unteren Bertoldstraße aufgenommen. Trotz der kriminologischen Zweifelhaftigkeit derartiger Präventionsmaßnahmen wollte die Stadt mit diesem Mittel dem erhöhten Kriminalitätsaufkommen an Wochenendnächten begegnen. Der Gemeinderat stellte eine halbe Millionen Euro für das Prestigeprojekt der Sicherheitspartnerschaft zur Verfügung. Nach langem Hin und Her waren die Kameras Anfang des Jahres endlich montiert und sollten im März in Betrieb genommen werden. Auch hier machte jedoch die Corona-Pandemie einen Strich durch die Rechnung.

https://strafrecht-online.org/bz-vue-corona

Die Inbetriebnahme der Kameras scheitert nun an den rechtlichen Hürden, die das Polizeigesetz statuiert: § 21 Abs. 3 PolG-BW fordert für den Einsatz von Videoüberwachung im öffentlichen Raum, dass sich die Kriminalitätsbelastung des überwachten Bereichs erheblich von der des Gemeindegebiets abhebt. Das aktuell sehr geringe Kriminalitätsaufkommen in der Altstadt lässt die Inbetriebnahme bereits aus Rechtsgründen nicht zu.

Wir haben Zweifel, ob das die Polizei tatsächlich umtreibt. Vielleicht möchte sie einfach nur keine Ressourcen beim Starren am Bildschirm auf verwaiste Plätze verschwenden, vielleicht ist ihr gedeutet worden, dass „in diesen Zeiten“ weitere Überwachungsmaßnahmen die Akzeptanz in der Bevölkerung vermutlich nicht steigern würden. Denn wie die Evaluation der Sicherheitspartnerschaft zeigt, polarisiert die Videoüberwachung erheblich. Gerade bei jüngeren Menschen stößt sie auf deutliche Ablehnung.

https://strafrecht-online.org/sipa-evaluation [S. 5]

Für Kriminologinnen und Kriminologen ist diese Zurückhaltung eigentlich eine erfreuliche Nachricht. Denn die Wirksamkeit der Videoüberwachung wird von der Kriminologie seit jeher bestritten. Nicht nur als Instrument der Kriminalprävention ist sie ungeeignet, auch eine strukturell verbesserte Aufklärung von Straftaten bzw. eine Verbesserung des Sicherheitsgefühls lässt sich damit nicht erreichen.

Für Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtler ist diese Nachricht wiederum nicht vollkommen zufriedenstellend. Grundrechtseinschränkungen gehen von den Kameras bereits jetzt aus. So ist auch eine ausgeschaltete Kamera in der Lage, einen „chilling effect“ zu erzeugen, also einen Überwachungsdruck, der sich verhaltenssteuernd auf die Bürgerinnen und Bürger auswirkt. Auch hierin liegt bereits ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.

Ob es also ausreicht, angesichts ausbleibender Kriminalität schlicht auf die Inbetriebnahme der Kameras zu verzichten, erscheint zweifelhaft. Da ein Abbau der Überwachungstechnik aber kaum eine Option darstellen dürfte, bleibt nur die Flucht nach vorn, um die Maßnahme auf rechtlich gesicherten Boden zu stellen: Die Kriminalität muss zurückkehren.

Selten wurde die Aussage Durkheims, die Gesellschaft sei auf abweichendes Verhalten und Normübertretungen angewiesen, so plastisch wie in der Corona-Krise. Höchste Zeit also, dass auch im Bereich der Kriminalität und ihrer Kontrolle wieder etwas Normalität einkehrt.