15.02.2021


Moralische Panik & Jugendliche in der Corona-Pandemie

„Moralische Panik (englisch: moral panic) bezeichnet ein Phänomen, bei dem eine soziale Gruppe oder Kategorie aufgrund ihres Verhaltens von der breiten Öffentlichkeit als Gefahr für die moralische Ordnung der Gesellschaft gekennzeichnet wird. Ziel des öffentlichen Aufruhrs ist die Unterbindung des als Bedrohung empfundenen Verhaltens auf langfristige Sicht. Die dabei entstehende öffentliche Dynamik wird durch eine sensationsfokussierte Medienberichterstattung und privat organisierte Initiativen begleitet. Häufig handelt es sich dabei um Problematiken wie Kindesmissbrauch, Drogenmissbrauch oder Jugendkriminalität. Letztendlich führt die moralische Panik zu einer Verstärkung der sozialen Kontrolle und der Verringerung der Wahrscheinlichkeit für einen normativen Wertewandel.“

Diese ganz passable Umschreibung entnehmen wir Wikipedia. Die angeführten Beispiele machen deutlich, dass sich vergleichbare Charakterisierungen auch in kriminologischen Lehrbüchern finden. Verschiedene Theorieströmungen aus den Bereichen der kritischen Kriminologie und der Cultural Studies finden sich im Konzept der moral panic wieder.

Insbesondere der britische Soziologe und Kriminologe Stanley Cohen war es, der über sein 1972 erschienenes Buch „Folk Devils and Moral Panics“ in das Konzept der moralischen Panik einführte. Sein Ausgangspunkt war die Reaktion der Massenmedien und der machtvollen Akteure auf das Auftreten von sog. Mods und Rockern in den 60er Jahren in Großbritannien.

Erich Goode und Nachman Ben-Yehuda wiederum arbeiteten 1994 fünf Indikatoren moralischer Panik heraus: Besorgnis (über das spezifische Verhalten einer Gruppe), Feindseligkeit (gegenüber der als Bedrohung empfundenen Gruppe), Übereinstimmung (eines substantiellen Teils der Bevölkerung), Disproportionalität (zwischen dem in der Gesellschaft subjektiv wahrgenommenen und dem objektiven Ausmaß der Gefahr), (temporär begrenztes) Ausmaß der moralischen Panik.

Das alles passt nicht nur auf die Mods oder den Krieg gegen Drogen, sondern auch auf die sog. Flüchtlingskrise 2015/16 in Deutschland und vielleicht eben auf die Interpretation der Jugendlichen in der Corona-Pandemie.

Diesen Gedanken greift Nina Breher in ihrem lesenswerten Kommentar im Tagesspiegel auf. Sie bringt uns noch einmal einige Sündenböcke in Erinnerung, die wir für das Corona-Desaster (gerne) verantwortlich gemacht haben: die Einwanderer und ihre Großfamilien, die nicht Abstand halten können, die Konsumwütigen oder auch die AfD-Wähler.

Und eben die „Jugend von heute“, „seit Jahrzehnten immer ganz oben im Klischeebaukasten“, wie es Breher treffend umschreibt. Und sie fragt sich: „In Krisenzeiten auf Jüngsten herumhacken – warum lässt eine sich für erwachsen haltende Gesellschaft sich zu so etwas Kindischem hinreißen?“

Indem sie eben genau das macht, was im Konzept der moral panic beschrieben wird: Die in unserer Gesellschaft nicht wenigen Etablierten sehen in der vermeintlich rücksichtslosen und partywütigen Jugend eine Bedrohung ihrer Gesundheit. Die Medien stürzen sich auf dieses Thema und finden natürlich Bilder. Wie es für derartige Etikettierungsprozesse bei ubiquitärem, also allgegenwärtigem, abweichenden Verhalten üblich ist, wirkt die moralische Panik wie eine selbsterfüllende Prophezeiung. Funktioniert bei den Jugendlichen auch deshalb so wunderbar einfach, weil sie sich regelmäßig nicht in abgeschirmten Landsitzen oder Villen, sondern im öffentlichen Raum bewegen. Die Eltern wiederum dinieren in doch etwas größerer Runde abgeschottet zu Hause.

Die Suche nach wissenschaftlichen Fakten für diese Befürchtung hinsichtlich der jungen Menschen tritt in den Hintergrund, die auch in der Politik überaus beliebte anekdotische Evidenz („Ich kann Ihnen da mal eine persönliche Begebenheit erzählen, die für mich unheimlich wichtig ist!“) reicht aus.

Dabei gibt es durchaus Erkenntnisse, die die Jugendlichen nicht als Teufel erscheinen lassen. Zudem könnte berücksichtigt werden, dass die an den Pranger gestellte „heutige Jugend“ jedenfalls zeitweilig „zu ihrem Besten“ an einen Ort zu gehen hatte bzw. hat, an dem sich gar viele Haushalte tummeln: die Schule nämlich.

Und die Folge? Die Immoralisten sind ausgemacht, jeglicher Grund ist entfallen, ihnen gegenüber gar so etwas wie Empathie zu empfinden. Dabei gäbe es hierfür einige Gründe: Die für das Lebensgefühl junger Menschen essenzielle körperliche Nähe steht unter permanenter Beobachtung. Ältere hingegen schenken sich schlicht den Handschlag, ohne dies als schmerzlich zu empfinden. Die Phase nach der Schule und vor der Ausbildung oder dem Studium ist ein wenig trister als geplant ausgefallen. Warum nun der Hörsaal vielleicht nicht ein magischer Ort, aber doch ein solcher ist, der auf die Studierenden eine Anziehungskraft im Kreise der anderen ausübt, hat man noch immer nicht so recht durchschaut.

Aber es wird schon wieder anders werden. Für Panik und Larmoyanz steht die andere Seite. – Ganz schön abgeklärt.

https://strafrecht-online.org/ts-corona-panik