11.04.2023


Videokameras in der Justiz – und wir finden das gut?!

Bereits seit Jahrzehnten wird über die Einführung einer audiovisuellen Aufzeichnung strafgerichtlicher Hauptverhandlungen diskutiert. Auch die Ampelkoalition möchte hier „mehr Fortschritt wagen“ und führt auf S. 85 ihres Koalitionsvertrages selbstsicher aus: „Vernehmungen und Hauptverhandlung müssen in Bild und Ton aufgezeichnet werden.“ – Der wohl mutigste Schritt in Richtung Zukunft seit der Abschaffung des Faxgeräts und der Einführung der elektronischen Akte bis (vielleicht) 2026 (!).

Trotz aller Heiterkeit ist es nicht weit hergeholt, diesen Schritt als „mutig“ zu bezeichnen. Insbesondere Richter:innen wehren sich seit jeher gegen entsprechende Vorhaben. Nun hat das Bundesjustizministerium einen Referentenentwurf erarbeitet, der sich an den Empfehlungen eines im Juni 2021 erschienenen Berichts einer Expert:innengruppe orientiert. Gem. § 271 II 1 StPO-E ist eine Hauptverhandlung, die erstinstanzlich vor dem Land- oder Oberlandesgericht stattfindet, in Bild und Ton aufzuzeichnen. Für amtsgerichtliche Verhandlungen (vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht) ist das nicht vorgesehen. Hier muss das Protokoll über die Hauptverhandlung aber schon heute über bloße Formalitäten hinaus „die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen“ enthalten, § 273 II 1 StPO.

https://strafrecht-online.org/entwurf-aufzeichnung-hv

https://strafrecht-online.org/bmj-expertinnenbericht

Schauen wir uns die Pläne also einmal genauer an. In einem ablehnenden Sinne hat jüngst die niedersächsische Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) das Wort erhoben: Aus dem Entwurf spreche „ein Misstrauen gegen Richterinnen und Richter.“ Außerdem würde die Aufzeichnung „den Beweiswert von Zeugenaussagen erheblich mindern“, weil sich diese von der Aufzeichnung eingeschüchtert fühlten und deshalb „entweder gar nicht oder aber nur noch oberflächlich und unvollständig aussagen“ würden.

https://strafrecht-online.org/sz-wahlmann-stpo

Die Behauptung, Zeug:innen würden negativ beeinflusst, konnte in Ländern, in denen schon seit Jahren audiovisuell aufgezeichnet wird, empirisch nicht nachgewiesen werden (Expert:innenbericht, S. 25). Dem Argument wiederum, den Richter:innen würde misstraut, könnten wir die gedankenlose Einschätzung entgegenhalten, die bei der Videoüberwachung im öffentlichen Raum Konjunktur hat: Wer nichts falsch mache, müsse doch auch nichts befürchten.

Das wäre aber hier so falsch wie dort. Ein Grundrechtseingriff ist immer Anlass zur Sorge, jedenfalls zur Reflexion. Es geht jedoch überhaupt nicht um eine Überwachung der Richter:innen, sondern vor allem darum, die Erkenntnisse einer Hauptverhandlung rechtssicher nutzen zu können, insbesondere auch für die Urteilsfindung bzw. mögliche Rechtsmittel. Damit werden legitime Interessen der Angeklagten bedient, die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens wird abgesichert.

Wenn die Beschuldigten nämlich einwenden möchten, bestimmte Aussagen aus dem Verlauf der Hauptversammlung seien nicht (hinreichend) gewürdigt worden, können sie – vertreten durch Ihre Verteidiger:innen – rügen, die Beweiswürdigung sei lückenhaft und entgegen § 261 StPO nicht aus dem „Inbegriff der Verhandlung“ geschöpft. Das könnte durch eine Aufzeichnung bewiesen werden.

Nun wird hiergegen angeführt, dies könne zu einem das Verfahren lahmlegenden Pingpong-Spiel in dem Sinne führen, dass die Verteidigung einen vermeintlich übersehenen Aspekt geltend mache, woraufhin die Staatsanwaltschaft meine, dann müsse aber auch ein anderer Aspekt noch einfließen, und so weiter (so Erhard ZRP 2023, 12 [14]). Auch in der Revision drohe dann eine Überlastung.

Wir fragen uns aber, wieso dies ausgerechnet durch Aufzeichnungen forciert werden soll. Im Gegenteil: Mit der Aufnahme könnte man doch viel schneller beweisen, ob und wie eine Aussage nun gemacht wurde.

Die vorgeschobenen Einwände überzeugen also nicht. Das darf aber nicht über tatsächlich vorhandene Probleme hinwegtäuschen. So stellen sich erhebliche technische Hürden. Der Referentenentwurf sieht in § 271 II StPO-E nicht nur eine Bild- und Tonaufzeichnung vor. Die Audioaufzeichnung soll vielmehr mittels Transskriptionssoftware auch automatisch verschriftlicht werden.

Diese Technik ist überaus fehleranfällig, insbesondere wenn Beschuldigte oder Zeug:innen mit Dialekt oder Akzent sprechen und kein – wie Techniker:innen es nennen – „kooperativer Sprecher“ agiert. Ausgegangen wird von einer Fehlerquote von 10 – 20 %, was nicht hinzunehmen ist. Um eine Überprüfung der Richtigkeit des Transskripts und entsprechende Korrektur wird man also nicht umhinkommen (Expert:innenbericht, S. 20; Erhard ZRP 2023, 12 [13]).

Doch weshalb bedarf es eines solchen Transskripts überhaupt? In Spanien und Schweden etwa, wo Hauptverhandlungen seit Jahren audiovisuell aufgezeichnet werden, wird auf ein solches auch verzichtet und schlicht die Aufzeichnung gespeichert.

Gerade vor Land- und Oberlandesgerichten, wo regelmäßig eine Freiheitsstrafe von über vier Jahren droht (§§ 74 I 1, 24 GVG), gehen Hauptverhandlungen häufig über sehr viele Verhandlungstage mehrere Wochen und Monate hinweg. Sämtliche Verfahrensbeteiligte haben als Aufzeichnungen nur ihre eigenen Notizen, die sie während der Hauptverhandlung anfertigen. Sie müssen das auch tun, um nicht den Faden zu verlieren, was letztlich zulasten der Konzentration auf das Prozessgeschehen geht. Das gilt auch für die Richter:innen, die am Ende ein Urteil schreiben müssen. Hätte man eine Aufzeichnung, könnte man sich bestimmter Aussagen noch einmal vergewissern.

Technische Aufrüstung steht seit jeher in immer raffinierterer Art und Weise den Staatsorganen zur Verfügung, um in Grundrechte einzugreifen – sei es durch Videoüberwachung, DNA-Untersuchung, Online-Durchsuchung und vieles mehr. Sobald es ausnahmsweise einmal um eine Erweiterung der Rechte von Beschuldigten durch technische Neuerungen geht, versucht man aber, den Fortschritt zu verhindern (vgl. Schünemann ZStW 114 [2002], 1 [45]). Dieses Messen mit zweierlei Maß kann in einem Rechtsstaat nicht hingenommen werden.