04.12.2024


Arme Medienlandschaft

„Halle-Neustadt: Arbeitslosigkeit, Armut, Kriminalität“ so lautet der Titel einer stern TV-Dokumentation, die Bestandteil der Serie „7 Tage Deutschland“ ist. Der reißerische Titel zieht, der YouTube-Clip wurde immerhin seit Anfang Oktober über 1,1 Millionen Mal aufgerufen. Noch höhere Klickzahlen erreichte stern TV auf YouTube zuletzt nur mit seiner Neuauflage der Kult-Serie über Familie Ritter, die in dieselbe Kerbe schlägt.

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Das zugrunde liegende Konzept ist schnell erklärt: Im Fokus stehen von Armut betroffene Menschen, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden und (infolgedessen) mit vielfältigen Problemen zu kämpfen haben. Regelmäßig gerät dabei nicht nur die Armut der gezeigten Menschen, sondern auch deren als kriminell bzw. zumindest sozial inadäquat gelabeltes Verhalten in den Blickpunkt. Statt Lösungsvorschläge aufzuzeigen, geben sich die Medienschaffenden häufig damit zufrieden, dem Publikum die Probleme und das Leid anderer Menschen auf überspitzte Weise zu präsentieren.

Dass es sich dabei weder um ein reines Internetphänomen noch eine Nischensparte handelt, zeigt ein Blick in das Programm des linearen Fernsehens: (Ehemalige) Sendungen wie „Hartz und herzlich“ (RTL II), „Mitten im Leben“ (RTL) oder „Plötzlich arm, plötzlich reich“ (SAT.1) beruhen auf dem gleichen Konzept.

Aber warum sind solche „Armutspornos“ so beliebt und laufen nicht nur jahrelang erfolgreich auf Sendern wie RTL II, sondern erzielen auch auf YouTube heute noch Millionen von Klicks? Armutsforscher und Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge zufolge entlastet der Konsum dieser Art von „Sozialdokus“ die Zuschauenden und gibt Ihnen ein gutes Gefühl.

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Sie wiegen sich in einer vermeintlichen Sicherheit. Die Angst vor dem sozialen Abstieg kann durch die Abgrenzung von den Protagonist:innen dieser Sendungen abgebaut werden, schließlich geht man vielleicht selbst ja fleißig jeden Tag zur Arbeit und strengt sich an. So fühlen sich die Zuschauenden weniger schlecht, weil sie sehen, dass es anderen noch mieser geht. Man tritt nach unten, um sich selbst zu erhöhen und besser zu fühlen – ein psychologischer Kniff, der in Druck- und Krisensituationen häufig Anwendung findet.

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RTL II-Chefredakteurin Konstanze Beyer verteidigt die Relevanz von Armutsreportagen für die Gesellschaft, immerhin gäben Formate wie „Hartz und herzlich“ den Mitwirkenden eine Stimme und es werde mit ihnen und nicht nur über sie geredet. Zudem würde so „direkt und ehrlich [vermittelt], was soziale Probleme sind und wie Menschen in diesem Land leben.“

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Handelt es sich also doch um aufklärende Reportagen, die einen Bildungsauftrag erfüllen, und die sich schockiert abwendenden Kritiker:innen ertragen es schlicht nicht, der Wahrheit ins Auge zu sehen? Medienwissenschaftler Bernd Gäbler entgegnet: „Die Formate tun so, als würden sie diesen Menschen eine Stimme geben. Richtig zuhören tun sie aber nicht.“ Er untersuchte in seiner Studie das Format „Armes Deutschland“ und zeigt darin auf, wie die Teilnehmenden systematisch in die Kategorien „gut“ und „böse“ gezwängt und durch verunglimpfende Kommentare aus dem Off bloßgestellt werden. Gezielt unvorteilhafte Zusammenschnitte runden das Ganze ab. So werden etwa herumkrabbelnde Kakerlaken gezeigt, während die Protagonistin betont, wie wichtig ihr Sauberkeit sei. Mit einer respektvollen und neutralen Berichterstattung hat das nichts mehr zu tun.

https://www.fluter.de/assi-tv-fernsehen-vorurteile-armut

Auch für Butterwegge überwiegen die Nachteile einer solchen medialen Aufmerksamkeit. Gefährlich seien solche „Sozialreportagen“ mitunter deshalb, weil vorwiegend Einzelschicksale gezeigt würden, bei denen die Zuschauenden, getreu dem neoliberalen Mantra „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ den Eindruck bekämen, die Individuen seien selbst schuld an ihrer Situation. Diese Haltung bestätigte auch eine Studie der BBC zu vergleichbaren TV-Formaten des britischen Fernsehens.

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https://rts.org.uk/article/who-benefits-tv-and-poverty

Besonders problematisch wird es dann, wenn die gezeigten Personen nicht nur das Label „faul, dumm und drogenabhängig“ verpasst bekommen, sondern auch als kriminell gebrandmarkt werden. Man denke nur an den Titel der oben erwähnten stern TV-Doku: „Armut, Arbeitslosigkeit, Kriminalität“. Die negativen Attribute schreiben die Zuschauenden häufig der armen Bevölkerungsgruppe generell zu. Dadurch wird nicht nur von strukturellen, gesellschaftlichen Problemen abgelenkt, sondern auch von der Ubiquität der Kriminalität. Das Richten des medialen Fokus auf das einfach erkennbare kriminelle Verhalten armer Menschen drängt die deutlich sozialschädlichere Kriminalität der Oberschicht (zB Steuerhinterziehung, Korruption …) in den Hintergrund.

Bedient werden einfache, wissenschaftlich nur in engen Grenzen haltbare Kriminalitätstheorien wie der Rational-Choice-Ansatz. Dass Menschen ohne Geld zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf kriminelle Verhaltensweisen zurückgreifen, klingt schließlich für Laien zumindest auf den ersten Blick plausibel. Und die eigentliche Rolle des Strafrechts, die Herrschaftsstabilisierung der Mächtigen durch das vergleichsweise ohne großen Aufwand mögliche Etikettieren der Armen mit dem Label „strafbar“, gerät aus dem Blick.

Durch das Ablenken von den strukturellen Problemen geht die Bereitschaft zu tiefgehenden Veränderungen, insbesondere einer besseren Sozialpolitik, verloren. Es entsteht der Eindruck, die scheinbar einfachen Probleme ließen sich durch einfache Lösungen bekämpfen. Die Verantwortung wird allein dem Individuum zugeschrieben, das durch Fleiß und Lohnarbeit den Bann durchbrechen könne. Passend hierzu schlägt die CDU im laufenden Wahlkampf denkbar zynisch vor, das Bürgergeld grundlegend zu reformieren, um die Attraktivität von Arbeit zu erhöhen.

https://strafrecht-online.org/cdu-buergergeld

Insofern grüßt erneut unser PPP-Murmeltier, der politisch-publizistische und zudem populistische Verstärkerkreislauf.

https://strafrecht-online.org/nl-2024-09-27 [IV.]

https://strafrecht-online.org/nl-2024-10-25 [II.]

Trotz des Diversitätsproblems, das der Journalismus neben vielen anderen Branchen hat, kann mediale Berichterstattung über Armut aber auch anders aussehen:

https://strafrecht-online.org/ndr-armut

Reden mit statt über betroffene Personen, Aufzeigen der Vielgestaltigkeit von Armut und der multiplen, auch strukturell bedingten Gründe, die Menschen in Armut führen können, sowie Wahrnehmung der Personen in ihrer Komplexität über ihre finanzielle Mangellage hinaus. Nur wenn nachhaltig ein Bewusstsein für die Fragilität des „guten Lebens“ geschaffen wird, wird deutlich, wie schnell für viele gelten kann: #ichbinarmutsbetroffen.


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