25.03.2024


Die gute alte Leier vom Rechtsgüterschutz

Wenn in Strafverfahren Gesetze ausgepackt werden, bei denen man sich intuitiv fragt, wo diese denn stehen, sollte Vorsicht geboten sein. Das gilt erst recht, wenn die Presse betroffen ist. Im Verfahren gegen den Journalisten und Projektleiter von „FragDenStaat“ Arne Semsrott ist beides der Fall. Er hat letzten Sommer drei Gerichtsbeschlüsse des AG München auf der Webseite von „FragDenStaat“ veröffentlicht. Es ging um Durchsuchungen bei der Letzten Generation sowie die Überwachung deren Pressetelefons.

https://strafrecht-online.org/fragdenstaat-lg [am Ende]

Die strafrechtliche Relevanz seines Verhaltens war Semsrott klar, immerhin hat er selbst darauf hingewiesen. Die Veröffentlichung von Dokumenten aus Strafverfahren ist gem. § 353d Nr. 3 StGB strafbewehrt. Eine Vorschrift, die für Studierende mangels Examensrelevanz vielleicht nicht vollends, treuen Newsletter-Lesenden jedoch sehr wohl bekannt ist, immerhin kam auch Innenminister Thomas Strobl bereits mit ihr in Kontakt.

https://strafrecht-online.org/nl-2022-05-27 [II.]

Es kam, wie es kommen musste: Die Berliner Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen Semsrott. Wäre es ihm nur um den öffentlichen Diskurs über die fragwürdigen Ermittlungsmaßnahmen gegangen, hätte er eine abgewandelte Form veröffentlichen und so dem Strafrecht aus dem Weg gehen können, § 353d Nr. 3 StGB erfasst nur Veröffentlichungen im Wortlaut.

https://strafrecht-online.org/lto-semsrott-klage

Seine Intention schildert Semsrott wie folgt: Er hält die Norm für verfassungswidrig und möchte eine Entscheidung des BVerfG herbeiführen. Zwar ist gegen Strafgesetze anders als üblich unmittelbar eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde grundsätzlich zulässig, da Beschwerdeführenden nicht zugemutet werden kann, eine strafrechtliche Verurteilung abzuwarten (BVerfGE 77, 84 [99 f.]). Allerdings kann eine solche gem. § 93 III BVerfGG nur binnen eines Jahres seit Inkrafttreten des Gesetzes erhoben werden. Eine Verfassungsbeschwerde gegen § 353d StGB wäre somit verfristet.

Die Anklage eröffnet Semsrott hingegen den Weg zum BVerfG. Entweder teilt schon das Landgericht die Bedenken und legt die Sache gem. Art. 100 GG dem BVerfG zur Überprüfung der Verfassungskonformität vor. Oder Semsrott wird letztinstanzlich verurteilt und erhebt gegen diesen Akt der Judikative Verfassungsbeschwerde. In deren Zuge hätte das BVerfG das der Verurteilung zugrunde liegende Strafgesetz abstrakt auf seine Verfassungskonformität zu überprüfen. Denn sie greift in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) und insbesondere die Pressefreiheit (Art. 5 I 2 GG) ein.

Diese Grundrechtseingriffe müssten, um gerechtfertigt zu sein, verhältnismäßig, d.h. zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein. Wenn das BVerfG davon spricht, das Strafrecht sei „Ultima Ratio des Rechtsgüterschutzes“ (BVerfGE 120, 224 [239 f.]), wird der Bezugspunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung benannt, nämlich das Rechtsgut.

Insoweit wird gleich ein ganzes Potpourri präsentiert, was abermals Argwohn erweckt: Wenn ein Rechtsgut offensichtlich nicht reicht, denkt man sich eben weitere aus. Die Norm soll jedenfalls die Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten, namentlich der Laienrichter:innen und Zeug:innen (die jeweils etwa die Anklageschrift nicht vor dem Prozess zu lesen bekommen), schützen, im weiteren Sinne also die Rechtspflege, darüber hinaus auch das Persönlichkeitsrecht der vom Verfahren Betroffenen sowie die zu deren Gunsten streitende Unschuldsvermutung, die nicht durch Vorabveröffentlichungen amtlicher Dokumente gefährdet werden solle (dazu MüKoStGB/Puschke, 4. Aufl. 2022, § 353d Rn. 5).

Hier werden also sowohl individuelle als auch kollektive Rechtsgüter aufgeboten. Letztere sind dabei nicht vom Staat her zu legitimieren, sondern müssen aus individuellen Interessen ableitbar sein. Dies verlangt das Grundgesetz, auch in Reaktion auf den Nationalsozialismus. Es konzipiert den Staat vom Individuum und seiner Würde her. Auch die „Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten“ darf daher nicht zum Selbstzweck verkommen, sondern erweist sich nur dann als verfassungslegitimes Rechtsgut, wenn es Menschen gibt, die daran ein Interesse haben.

Doch wer sollte das sein, außer die im konkreten Fall Beschuldigten? Zwar besteht auch ein gesamtgesellschaftliches Interesse an der Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten. Allerdings erfasst § 353d Nr. 3 StGB gerade auch solche Fälle, in denen die durch eine Veröffentlichung womöglich herbeigeführte Unbefangenheit nur zulasten der im konkreten Fall Beschuldigten geht. In diesen Fällen kann daher abgesehen von den Interessen der Beschuldigten auf keine weiteren verwiesen werden. Gerade diese Beschuldigten sind aber diejenigen, deren Interessen schon über die genannten Individualrechtsgüter abgedeckt sind: die zu deren Gunsten streitende Unschuldsvermutung sowie deren Persönlichkeitsrechte.

353d Nr. 3 StGB ist nun aber sogar dann tatbestandlich einschlägig, wenn die Beschuldigten selbst die Dokumente veröffentlichen, darin einwilligen oder schlicht kein Interesse an der Geheimhaltung haben (Fischer StGB, 71. Aufl. 2024, § 353d Rn. 9). Ein Schutz der genannten Individualrechtsgüter kommt dann nicht in Betracht: Der Letzten Generation lag nicht an der Geheimhaltung, immerhin zielen ihre Aktionen auf eine öffentliche Aufmerksamkeit, der auch das Veröffentlichen der Beschlüsse dienlich ist. Persönlichkeitsrechte waren erst recht nicht betroffen, weil Semsrott die persönlichen Daten geschwärzt hatte.

Die Norm erfasst somit zumindest auch solche Sachverhalte, in denen kein aus der Verfassung ableitbares Rechtsgut geschützt wird. Gleichzeitig enthält sie keine auslegungsbedürftigen, unbestimmten Rechtsbegriffe, an denen eine entsprechende Reduktion anknüpfen könnte.

Die Norm ist darüber hinaus auch nicht konsistent: Sie erfasst nur Mitteilungen im Wortlaut, also keine Verfälschungen. Dass die Gefahr der negativen Beeinflussung von Schöff:innen und Zeug:innen durch Originalwiedergaben etwa der Anklageschrift, die jedenfalls erstere zu Beginn der Hauptverhandlung ohnehin hören, größer sein soll als bei Abwandlungen, leuchtet nicht ein (so auch Schönke/Schröder/Perron/Hecker StGB, 30. Aufl. 2019, § 353d Rn. 41). Die Norm zwingt Journalist:innen dazu, den Inhalt der Dokumente umzuformulieren, wodurch auch die Gefahr von Ungenauigkeiten entsteht.

Aber wird das BVerfG deshalb auf eine Verfassungswidrigkeit erkennen? Bereits zweimal hat es sich mit § 353d Nr. 3 StGB befasst, 1985 (BVerfGE 71, 206) und 2014 (BVerfG NJW 2014, 2777). Jeweils sah es die Norm für verfassungskonform an. Hier wird also einmal mehr die Linie des BVerfG deutlich, sich nur sehr zurückgenommen mit dem materiellen Strafrecht zu befassen und dem Strafgesetzgeber eine erhebliche Einschätzungsprärogative einzuräumen. Und so wird vermutlich abermals eine in sich widersprüchliche und dem Rechtsgüterschutz abträgliche Norm im StGB verbleiben, die zugleich weitreichende Eingriffsbefugnisse gegen die Presse eröffnet.

Respekt aber haben wir vor dem erneuten Versuch von Semsrott allemal.


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