15.07.2025


Der Kapitalismus muss weg

Und das in möglichst 90 Sekunden. Denn das ist offenbar die maximale Länge eines Instagram Reels, wobei ChatGPT freilich sparsame sieben bis fünfzehn Sekunden als optimal benennt. Kurz sei eben besser, weil eine höhere Wahrscheinlichkeit bestehe, dass Nutzende das Reel bis zum Ende anschauten, was sich positiv auf das Ranking auswirke. Zudem sei die Aufmerksamkeitsspanne bei flüchtigem Zusehen größer.

Hilmar Klute nimmt sich in der Süddeutschen Zeitung des Phänomens Heidi Reichinnek an. Wir sind bei unserem „Nosing around“ für den Newsletter immer mal wieder auf ihn gestoßen und haben ihm mal zugestimmt – so bei seiner Sichtweise zu den Negern von Koeppens Tauben im Gras –, mal aber auch kritisiert, wenn er Clemens Meyer als zorngetriebenen Systemsprenger stilisierte.

https://strafrecht-online.org/nl-2023-05-12 [III.]

https://strafrecht-online.org/nl-2024-10-25 [I.]

Vielleicht gefallen RH seine Beiträge auch deshalb, weil Hilmar Klute nur wenig jünger ist als er selbst und sich vermutlich TikTok und Instagram vergleichbar hart über Google erarbeiten musste. 14 Beiträge und 182 Follower bei seinem Instagram-Account sprechen für sich.

Zu Heidi Reichinnek fallen ihm die treffenden Charakterisierungen „harte und plakative Rhetorik“, „ostentativ revolutionär“ und „extrem gut gelaunt“ ein. Und das passe eben sehr gut zu Social Media, die kein Ort der Differenzierung seien und Feindbilder schablonenhaft benennen bzw. bündeln würden. Vor allem, um mit den Sportfreunden Stiller zu sprechen: „Du musst es laut rausschrein.“

Wenn Hilmar Klute die Radikalität als charismatische Hauptnote von Heidi Reichinnek ausmacht, möchten wir ergänzen: die negative Radikalität. Denn ein entschiedenes Nein geht vielleicht noch in maximal 90 Sekunden, das Gegenmodell muss halt warten.

Und hier trennen sich nun unsere Wege: Hilmar Klute macht sich auf die Suche nach den guten Seiten des Kapitalismus, dessen Antlitz er eben doch nicht ganz so fratzenhaft ansieht, wie Reichinnek es gerne hätte, und ist somit tendenziell bewahrend unterwegs. Wir hingegen haben im Ausgangspunkt Sympathie für den zerstörenden verneinenden Geist, wünschen uns in einem weiteren Schritt dann aber ein theoretisches Gegenmodell.

Und da kommt es schon: Es sei der demokratische Sozialismus, lesen wir in der Neuen Osnabrücker Zeitung, der den Kapitalismus abschaffe.

https://strafrecht-online.org/noz-reichinnek

Dieser Begriff hat nun auch schon mehr als hundert Jahre auf seinem Buckel und ist beispielsweise von der DDR in gleicher Weise wie der UdSSR gekapert worden. Da hilft es wenig, dass Reichinnek darauf verweist, er sei ganz anders als das Modell der DDR zu verstehen. Wie anders denn bitte und in welchem Verhältnis stehen die Begriffe des Sozialismus und der Demokratie? Würden demokratische Prozesse dann doch eine Ungleichverteilung von Wohlstand zulassen?

Wir erkennen den Versuch Reichinneks an, die destruktive Phase zu überwinden. Aber sie bleibt in ihrer Rhetorik dem TikTok-Slang verhaftet, weil sie nicht bereit ist, das positive Modell zu entfalten. Und so könnte sie es eigentlich doch bei ihrer Kernkompetenz, „dem gut getanzten Absagen an das System der Bundesrepublik“ (Hilmar Klute), belassen.

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