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Das Elend der Ersatzfreiheitsstrafe
„An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe.“ So sieht es das Sanktionenrecht in § 43 StGB vor. Wer in Deutschland von einem ordentlichen Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt wird, diese jedoch nicht zahlen kann oder hierzu nicht bereit ist, muss eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe antreten.
Die Regelung sieht sich aus kriminologischer Sicht seit Langem vielfältiger Kritik ausgesetzt. Diese fängt bereits bei dem Befund an, dass von der Ersatzfreiheitsstrafe zu einem großen Teil wegen Bagatelldelikten Verurteilte betroffen sind. So ergab etwa eine Studie von
Bögelein/Glaubitz/Neumann/Kamieth,
jeder vierte Ersatzfreiheitsstrafen-Gefangene in Mecklenburg-Vorpommern sei ursprünglich zu einer Geldstrafe wegen Erschleichens von Leistungen (§ 265a StGB) verurteilt worden – ein Straftatbestand, unter den die Gerichte u.a. das Fahren ohne Fahrschein subsumieren.
https://strafrecht-online.org/boegelein-mschrkrim
Ein Gefängnisaufenthalt für die unerlaubte Mitfahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln ist in Deutschland also keine Seltenheit. Für die Betroffenen bedeutet die Inhaftierung häufig einen weiteren Schritt in einer Abwärtsspirale. Sie befinden sich in einer finanziell schwierigen Situation, die nicht selten mit einer generellen persönlichen Überforderung einhergeht. Anstelle von Unterstützungsangeboten, die es den Verurteilten ermöglichen würden, wieder „in die richtige Spur“ zu finden, trifft sie die faktisch entsozialisierende Wirkung der Haft mit voller Härte. Auch in der Justizvollzugsanstalt wird den Gefangenen einer Ersatzfreiheitsstrafe – im Gegensatz zu Langzeit-Inhaftierten – kaum die notwendige Unterstützung zuteil, da sie nach wenigen Wochen bereits wieder entlassen werden.
Hat die Ersatzfreiheitsstrafe bereits für die Inhaftierten negative Konsequenzen, so sind die gesamtgesellschaftlichen Nachteile ebenso wenig zu unterschätzen. Anstelle der Eintreibung einer Geldstrafe, die dem Staatshaushalt zugutekommt, haben die deutschen Steuerzahlerinnen und -zahler für die Inhaftierung von „Schwarzfahrer*innen“ und Ladendieb*innen zu zahlen. Die Haftkosten sind enorm und lagen etwa in Baden-Württemberg im vergangenen Jahr bei 130 Euro pro Gefangenem für jeden Hafttag.
https://strafrecht-online.org/haftkosten-bw
Auf Kostenseite sind obendrein – neben den materiellen Einbußen im Staatshaushalt – die Konsequenzen einzustellen, die das Verhängen von Haftstrafen für das Gelingen von Spezialprävention hat: Die Rückfallquoten sind nach einer Inhaftierung tendenziell höher als bei der bloßen Verhängung einer Geldstrafe. Ein Befund, der mit der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe konterkariert wird und daher im Sanktionensystem noch stärker seinen Niederschlag finden sollte, will dieses den präventiven Strafzweck der Resozialisierung nicht vollends aus dem Auge verlieren.
Kurzum: Ersatzfreiheitsstrafen sind weder aus Sicht der Betroffenen noch aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive lohnenswert und deren Abschaffung wäre die einzig sinnvolle Lösung. Verspricht die Vollstreckung der Geldstrafe mit den Mitteln des Zwangsvollstreckungsrecht keinen Erfolg (vgl. § 459c Abs. 2 StPO), sollte daher nach sozialpolitischen Lösungsansätzen Ausschau gehalten werden.
Anlass für einen Hoffnungsschimmer gibt insoweit die neue Bundesregierung. Im Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen hieß es: „Wir […] reformieren das Sanktionensystem mit dem Ziel von Prävention und Resozialisierung. Dazu gehör[t der] Verzicht auf nutzlose Ersatzfreiheitsstrafen […].“
https://strafrecht-online.org/wahlprogramm-gruene-2021
Auch im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien hat eine ähnliche Passage Eingang gefunden, wurde hier jedoch hinsichtlich der Forderungen erheblich abgeschwächt: „Das Sanktionensystem einschließlich Ersatzfreiheitsstrafen […] überarbeiten wir mit dem Ziel von Prävention und Resozialisierung.“ Von einem „Verzicht“ auf „nutzlose Ersatzfreiheitsstrafen“ ist hier leider keine Rede mehr.
https://strafrecht-online.org/ampel-koalitionsvertrag
Es steht daher zu befürchten, dass sich an dem grundsätzlichen Elend der Ersatzfreiheitsstrafe nur wenig ändern wird. Man wird sich womöglich mit einer „kleinen Lösung“ zufriedengeben müssen, die lediglich Alternativen zur Ersatzfreiheitsstrafe stärkt, auf dieses Instrument aber nicht vollständig verzichtet. Eine Alternative existiert dabei bereits in vielen Bundesländern mit dem Projekt „Schwitzen statt Sitzen“, das es Verurteilten ermöglicht, die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe durch Leistung von gemeinnütziger Arbeit abzuwenden (Art. 293 EGStGB).
Die Option, gemeinnützige Arbeit als primäre Ersatzstrafe bei uneinbringlichen Geldstrafen vorzusehen, war bereits 2004 unter der letzten SPD-geführten Bundesregierung auf die politische Agenda gesetzt worden (BT-Drs. 15/2725), der entsprechende Gesetzentwurf versandete jedoch im Rechtsausschuss. § 43 Abs. 1 S. 1 StGB-E sollte damals die folgende Fassung erhalten: „An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt mit Zustimmung des Verurteilten gemeinnützige Arbeit.“ Die FDP störte sich jedoch am Umrechnungskurs und wollte aus einem Tagessatz erheblich mehr gemeinnützige Arbeit generieren. Damaliger Redner: Volker Wissing, nunmehr Bundesminister für Digitales und Verkehr.
Diese historische Gegebenheit lässt die Hoffnungen darauf schwinden, dass es in einer Ampel-Koalition zu echten Verbesserungen im Sanktionenrecht kommt. Sollten sich die Koalitionspartner nicht zu einer Reform durchringen, sind umso mehr zivilgesellschaftliche Akteure gefordert, die negativen Auswirkungen von Ersatzfreiheitsstrafen so gut es geht abzumildern. In Berlin gründete sich kürzlich die Initiative „Freiheitsfond“, die sich zum Ziel gesetzt hat, potenzielle Ersatzfreiheitsstrafen-Gefangene „freizukaufen“, indem deren Geldstrafe aus Spendengeldern gezahlt wird.
Bis zum heutigen Tag konnte die Initiative bei 72 Personen die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe abwenden. 91.343 Euro wurden investiert, um deren Geldstrafen zu bezahlen, der deutschen Staatshaushalt wurde um 949.000 Euro Haftkosten entlastet. Eine solche Rechnung könnte vielleicht auch den neuen Finanzminister (FDP) zu einem Umdenken bewegen.