28.03.2023


Desperately seeking ...

2023 ist Jahr der Schöffinnen- und Schöffenwahl. Bundesweit werden 60.000, in Baden-Württemberg 7.000 dieser Spezies gesucht. Schöffinnen und Schöffen wird gemeinhin eine bedeutsame Rolle zugeschrieben. Ihre Stimme habe das gleiche Gewicht wie diejenige der Berufsrichter:innen. Ihnen komme die Aufgabe zu, komplexe Sachverhalte runterzubrechen, Ansehen und Bürgernähe der Rechtsprechung zu fördern und andere als rein juristische Perspektiven in den Urteilsspruch einfließen zu lassen.

https://strafrecht-online.org/ts-schoeffen

https://strafrecht-online.org/sz-schoeffen-I [kostenloses Probeabo]

Bisweilen gestaltet sich das Casting etwas zäh, dabei will der Staat nicht mehr als „ein A4-Blatt“ wissen. Eine Kontrollinstanz gibt es nicht, womit die Sorge virulent wird, das Amt könne von rechts unterwandert werden.

https://strafrecht-online.org/sz-schoeffen-II

Eine andere bereits empirisch bestätigte Sorge kommt hinzu, nämlich diejenige, Laienrichter:innen seien punitiver unterwegs als professionell ausgebildete Akteur:innen (vgl. Hoven/Weigend ZStW 133 [2021], 322 ff.). Vielleicht ist das die oben erwähnte positiv hervorgehobene „andere Perspektive“, die uns ein wenig Bauchschmerzen bereitet.

So weit die Theorie von der Bedeutung der Schöffinnen und Schöffen und dem mit ihnen einhergehenden Gefahrenpotenzial: In der Praxis relativiert sich einiges und entwickelt man vielleicht zumindest vom Ergebnis her Verständnis dafür, warum man sich gemeinhin um dieses Amt nicht reißt.

So entstammt das Schöffensystem dem 19. Jahrhundert, die Gerichtswirklichkeit seitdem hat sich massiv verändert. Sie zeichnet sich nicht selten durch eine hohe Komplexität und große Umfänge an Beweismaterial aus.

Und nun wird es „paradox“ bzw. kurios (Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 30. Aufl. 2022, § 6 Rn. 17): Schöffinnen und Schöffen haben in aller Regel keine Aktenkenntnis, sei es, dass ihnen eine solche untersagt wird, sei es, dass man zwar ihrem Wunsch Folge leisten würde, in die Akten Einsicht nehmen zu wollen, ein solcher aber tatsächlich der absolute Ausnahmefall sein wird.

Die Laien schöpfen also aus der Hauptverhandlung ihre Entscheidungsgrundlage, die aber ihre in der StPO angelegte zentrale Funktion weitgehend verloren hat. Vielmehr dominieren sog. Perseveranz- und Trägheitseffekte, die daraus folgen, dass das entscheidende Gericht, und zwar ohne Schöffinnen und Schöffen, zu dem Ergebnis gelangt ist, es liege ein hinreichender Tatverdacht vor. Diese Effekte werden durch die das gesamte deutsche Strafverfahren dominierende Absprachenpraxis befördert, die sich vom Ziel der über die Hauptverhandlung zu ermittelnden materiellen Wahrheit endgültig verabschiedet hat und bei der ganz andere Mechanismen der Entscheidungsfindung greifen.

Das alles scheint in der breiten Allgemeinheit noch nicht angekommen zu sein, die nach wie vor ein Strafverfahren nach der von der StPO vorgesehenen Struktur für den Regelfall hält und den einen oder anderen Deal als Ausrutscher ansieht.

Schöffinnen und Schöffen werden also erstens einem verstörenden Kulturschock ausgesetzt sein, wenn sie die Praxis kennenlernen. Insoweit sehen wir der Befragung von Schöffinnen und Schöffen zu ihrer Rolle insbesondere bei der Verständigung im Strafverfahren durch das Tübinger Institut für Kriminologie mit besonderem Interesse entgegen.

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Und zweitens ist ihre strukturelle Bedeutungslosigkeit bzw. Überforderung bei einer derartigen Praxis zementiert, womit sich die oben beschriebenen Sorgen nach einem unseligen Einfluss der Laienrichter:innen als weitgehend haltlos herausstellen dürften.

Das alles wird bei der auszumachenden Skepsis am Amt der Schöffin oder des Schöffen keine entscheidende Rolle spielen, sondern eher die Unlust, hierfür Zeit zu opfern. Ein rechtsstaatswidriger Budenzauber bleibt diese Praxis des Strafverfahrens allemal.

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