30.05.2022


Lügen, Doppelmoral und Neutralisationstechniken

Der Soziologe Stephan Lessenich beschreibt in seinem lesenswerten Gastbeitrag für die Süddeutschen Zeitung, wie Doppelmoral heute funktioniert: Den Krieg in Europa ächten, aber Kriege im Rest der Welt geschehen lassen. Auf die russische Lügenpropaganda verweisen, aber über den auf Lügen aufgebauten Irakkrieg schweigen. Putins Gas dämonisieren, es aber gnädig noch mitnehmen und zudem in den Emiraten anticham­brieren. Einem europäischen Wertekanon huldigen, ihn aber auf dem Mittelmeer und bei den afrikanischen „Migrationspartnerschaften“ ignorieren. Frei nach dem Motto: Wir sind die Guten.

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Putin wiederum legitimiert seine „Spezialoperation“ damit, in Kiew seien Faschisten und Nazis an der Macht, die Ukraine müsse demzufolge entnazifiziert werden. Den Russen in der Ukraine, vor allem in den „befreiten Gebieten“ Donezk und Luhansk, stehe ohne Intervention ein Völkermord bevor, Russland selbst werde durch die Nato militärisch bedroht. Mithilfe der USA entwickele die Ukraine in Geheimlaboren Biowaffen.

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Geert Keil bezeichnet den Sprechakt des Lügens als ziemlich voraussetzungsreich: „Der Lügner will andere etwas glauben machen, was er selbst nicht für wahr hält. Dabei verlässt er sich darauf, dass die anderen nicht erwarten, belogen zu werden.“

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Nur würde Putin dann wirklich lügen, wenn Baerbock ihm wiederum unterstellt, er glaube das falsche Narrativ offensichtlich auch selbst, das er der Welt erzähle? So werde er von den eigenen Geheimdiensten nicht vollständig über die Lage unterrichtet. Zudem: Kann er sich wirklich noch immer darauf verlassen, dass die anderen nicht erwarten, belogen zu werden?

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Auch die Doppelmoral assoziieren wir nicht mit der Lüge, sondern stellen sie ihr als kongeniale Partnerin an die Seite. Sie scheint eher von einer verblendeten Überzeugung getragen zu sein, richtig zu agieren, als von dem Versuch, andere „über den Tisch zu ziehen“. „Wir sind die Guten“ eben. Doppelmoral als eine solche zu entlarven, fällt dann nicht schwer, wenn einem schlicht kein Grund für eine unterschiedliche Beurteilung in den Sinn kommt, etwa im Hinblick auf die Völkerrechtswidrigkeit des Irak- und des Ukrainekriegs.

In der Kriminologie wiederum begegnen uns ähnliche Mechanismen, über die Verbrechen befördert oder zumindest legitimiert werden. So beschreibt die Subkulturtheorie, wie sich durch Interaktionsprozesse innerhalb einer Gruppe homogene Werte und Normen bilden, die vom gesellschaftlich anerkannten Wertesystem abweichen. Während hierdurch das Bewusstsein abweichenden Verhaltens allmählich verschwindet, ist es bei den Neutralisationstechniken zwar vorhanden, wird aber über diese zeitweise außer Kraft gesetzt. So beruft man sich beispielsweise darauf, das Opfer habe selbst Unrecht geübt, man könne gar nicht anders oder ein Schaden sei nicht auszumachen.

Vermutlich sind im Falle des Krieges gegen die Ukraine Lügen und Neutralisationstechniken eine unheilvolle Allianz eingegangen. Die die Ukraine Unterstützenden als die Guten wurden hierüber im Gegenzug in einer Weise glorifiziert, die jedes Nachdenken über ihr Vorgehen von vornherein als verwerflich brandmarkt. Die Parteien haben sich dem, von kleineren Scharmützeln abgesehen, gleich einmal im Schulterschluss furchtsam gebeugt. Lessenich wiederum wird das ihm sicherlich verpasste Label „schief“ gelassen ertragen.