30.08.2023


Nicht mehr als ein Feigenblatt?

Fast konnten wir die Leier unseres Gesundheitsministers während der Pandemie nicht mehr hören, die Gesundheitspolitik sei evidenzbasiert auszurichten. Und in der Nachschau hat sich so die eine oder andere Maßnahme wie die hektischen Schulschließungen als keine gute Idee erwiesen. Aber wir können hieran eben auch sogleich erkennen, dass die Verankerung in der Wissenschaft weder zwangsläufige noch zweifelsfreie Maßnahmen hervorbringt. Die Datenlage kann sich als unzuverlässig erweisen. Und wichtiger: Die Bewertung der Daten bleibt noch immer eine Frage von Präferenzen.

Verabschieden wir uns aber von der Gesundheitspolitik und wenden wir uns der Kriminalpolitik zu. Auch diese soll natürlich evidenzbasiert erfolgen, was ein weiteres Mal Solidität und Skrupulosität verspricht. Erst wenn sich ein Straftatbestand bewährt haben sollte, will man an ihm festhalten. Nur mit der Bewährung ist es so eine Sache. Selbst wenn sich nur die klassischen und nicht die kritischen Kriminologinnen und Kriminologen auf deren mit großem Brimborium angesetzte Überprüfung stürzen und damit das Meinungsspektrum bereits stark eindampfen, bleibt es noch immer ein weitgehendes Fischen im Trüben. Natürlich muss alles auch noch hopplahopp gehen, was die Chancen einer validen empirischen Sozialforschung weiter verringert und häufig gar hausinterne Evaluationen provoziert. Wir wären damit endgültig beim in der Überschrift apostrophierten Feigenblatt angelangt.

Ziehen wir wie die Bremer Stadtmusikanten frei nach dem Motto weiter, etwas Besseres als den Tod werde sich schon finden, landen wir vielleicht im Rechtsausschuss des Bundestages. Auch hier gibt sich die Wissenschaft die Ehre, was diese mit einem souverän nicht zur Schau getragenen Stolz erfüllt. Sollte die Politik tatsächlich an den Erkenntnissen ihrer langjährigen Forschung interessiert sein? Nun ja, vielleicht ein bisschen, smart auf den Punkt gebracht werden sollten sie allerdings in jedem Fall.

Und so nahm RH voller Demut die ihm zur Verfügung gestellten Instrumente des Gladiatorenkampfes um das „Fahren ohne Fahrschein“ entgegen: Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme, vierminütiges Statement bei mitlaufender Uhr, zwei jeweils zweiminütige Antworten, wenn denn an ihn auch Fragen gestellt würden.

RH ließ pflichtschuldig alles andere stehen und liegen. Denn er wusste aus Filmen, dass es bei den Gladiatoren um Leben und Tod gehen würde. Zwar hatte er vor langer Zeit schon einmal im Rechtsausschuss den Kampf gegen das „Graffiti-Unwesen“ bekämpft, ihm war aber lediglich noch präsent, dass er lebte, also gewonnen haben musste.

Dass er nun wahrlich kein Profi ist, zeigte sich bereits daran, dass er der schriftlichen Stellungnahme erhebliches Gewicht beimaß. Hierauf hatten die alten Hasen in ihrem Wissen souverän verzichtet, dass das Lesen nun wahrlich nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen umtriebiger Politikerinnen und Politiker gehört.

https://strafrecht-online.org/rechtsausschuss-265a

Aber RH hatte bei seinen vier Minuten wie Wicki eine Idee: Er wollte sich mit einem Satz in den Köpfen der Zuhörenden festsetzen, weil ja alles schon unzählige Male gesagt worden war. Und er kombinierte die Forderung des Bundverfassungsgerichts, das Strafrecht als das letzte Mittel nur bei qualifizierter Sozialschädlichkeit in Betracht zu ziehen, mit der empirischen Erkenntnis der verheerenden Wirkungen insbesondere einer bei Fahren ohne Fahrschein häufig im Raume stehenden Ersatzfreiheitsstrafe:

„Strafe setzt als notwendige Bedingung sozialschädliches Verhalten voraus. Wenn Strafe umgekehrt Sozialschädlichkeit bewirkt, hat sie sich selbst diskreditiert.“

Und tatsächlich griff Clara Bünger von den Linken just diese beiden Sätze in einer Rede vor dem Bundestag auf.

https://strafrecht-online.org/youtube-buenger [Minute: 2:05]

Und sicherlich ganz zufällig erschien im Verfassungsblog zwei Tage später ein Beitrag mit dem Titel: „Wenn das Gesetz sozialschädlicher ist als die Straftat“.

https://strafrecht-online.org/verfassungsblog-265a

Ein voller Erfolg also? Nun ja, noch nicht ganz. Ein solcher würde sich erst dann einstellen, wenn sich endlich einmal auf einen entsprechenden Gesetzentwurf hin (und es war nicht der erste) auch im Gesetz etwas täte. Und zwar nicht im Sinne einer halben Sache – so die treffende Formulierung von Clara Bünger – wie bei der Ersatzfreiheitsstrafe, was dann beim Fahren ohne Fahrschein eine noch immer unangemessene Ordnungswidrigkeit bedeuten würde. Sondern in Gestalt einer ersatzlosen Streichung dieser Variante des § 265a StGB. Das sog. erhöhte Beförderungsentgelt wäre noch immer belastend genug.

https://strafrecht-online.org/bt-265a

https://strafrecht-online.org/rdl-265a


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