28.06.2022


Vorlesungen und Realität

Im letzten NL versuchte RH, auf die aktuelle Relevanz des Vorlesungsklassikers Staschinskij im Ukrainekrieg hinzuweisen, vermutlich wie gewöhnlich mit nur mäßigem Erfolg.

https://strafrecht-online.org/nl-2022-04-01
[VI.]

Starten wir also einen neuen Versuch und verweisen wir auf die Netflix-Doku-Serie „Bad Vegan“. Vielleicht ist Netflix eben die neue Realität. Offensichtlich soll Shane Sarma im Gegenzug für die Zahlung hoher Geldbeträge den Aufstieg in einen übermenschlichen Daseinszustand versprochen haben, in dem sie und ihr geliebter Pitbull das ewige Leben erwarte.

https://www.lto.de/persistent/a_id/48099/

Möglicherweise kommen der einen oder dem anderen Assoziationen zum Sirius-Fall (BGHSt. 32, 38 ff.), bei dem die Aussicht im Raume stand, nach dem Zerfall des schnöden Körpers auf dem Planeten Sirius weiterzuleben. Und zwei Bände später (BGHSt. 34, 199 ff.) ging es zwar nicht um das ewige Leben, wohl aber um ein allein erstrebenswertes, nämlich ein solches mit der Figur und dem vollen Haar eines Filmstars.

Jeweils stellt sich die Frage, ob der Schutz des Betrugstatbestandes auch die in den Worten Samsons „exquisit Dummen“ erfasse oder eben zu begrenzen sei. Insoweit hat der an die Viktimologie angelehnte Begriff der Viktimodogmatik eine eher unheilvolle Karriere gemacht. Die doch recht schlichte Idee mag dabei die folgende gewesen sein: Das Opfer sei über lange Zeit in der Kriminologie vernachlässigt worden, es sei aber auch in der Dogmatik nicht auszublenden.

Während nun der Blick auf das Opfer in der Kriminologie tatsächlich eine Forschungslücke schloss, womit allerdings im selben Atemzug das Risiko eines zunehmend repressiven Strafrechts virulent wurde, beschwor der Topos der Opfermitverantwortung ohne Not eine Begrenzung des Strafrechts in Konstellationen, die man sich selbst zuzuschreiben habe.

Dabei kann man es, genau besehen, eigentlich bei einer solchen Umschreibung belassen: Diejenigen, die sich von einer noch so plumpen Täuschung durch noch so abwegige Versprechungen haben leiten lassen, agieren aus einem Defizit heraus und haben sich dies nicht zuzuschreiben. Sie verdienen gerade den Schutz des Strafrechts, werden ihn aber symptomatisch nicht geltend machen. Nur der eine bewusste Risikoentscheidung vornehmende Zocker bleibt außen vor, ohne dass es hierfür des Rückgriffs auf die Viktimodogmatik bedürfte (zum Ganzen MüKo/Hefendehl, 4. Aufl. 2022, § 263 Rn. 40 ff., 361 ff.).

Und wie sieht es nun im digitalen Zeitalter aus, in dem in Windeseile über eine Google-Suche der Wunsch nach Unsterblichkeit zerplatzen kann? Ganz so sicher ist sich RH da übrigens nicht, er hat eigentlich auf jede noch so abwegige Recherche hin Treffer erzielt. Aber abgesehen davon bleibt die Domäne des Betrugs noch immer diejenige, die man natürlich hätte vermeiden können.