27.06.2024


Wie es euch gefällt – und was daraus wird

Die jüngste Ausgabe der bereits seit 1992 jährlich erscheinenden Umfrage „Die Ängste der Deutschen“ der R+V-Versicherung bestätigte, was wir bereits vermuteten: Eine neue Angst geht um. Sie legt sogar ein bemerkenswertes Debüt hin und teilt sich mit der Angst vor Kosten für die Steuerzahlenden durch EU-Schuldenkrise immerhin einen ruhmreichen siebten Platz. Dieses uns neuerdings heimsuchende Schreckgespenst, ist kein geringeres als die Angst vor der Spaltung der Gesellschaft. 50 % aller Befragten gaben an zu befürchten, die Spaltung der Gesellschaft werde zunehmen und zu Konflikten führen.

https://strafrecht-online.org/aengste-der-deutschen

Auch in Anbetracht der jüngsten Europawahlergebnisse wird diese Angst wohl vorerst nicht versiegen. Aber wie stets legen die USA sogar noch einen drauf: Dort sollen laut einer 2022 durchgeführten Studie fast die Hälfte aller Amerikaner:innen in den nächsten Jahren deswegen sogar einen Bürgerkrieg für wahrscheinlich halten.

https://strafrecht-online.org/usa-political-violence

Aber woher kommt diese Angst? Welche Veränderung in der Gesellschaft lässt sie gerade jetzt und in dem Ausmaß auftauchen? Dass nicht alle gleicher Meinung sind und das auch gar nicht sein sollen, ist schließlich nichts Neues, sondern vielmehr Grundlage unserer pluralistischen demokratischen Gesellschaft und Prämisse unseres Grundgesetzes. Also warum besorgen uns unsere Meinungsverschiedenheiten auf einmal so sehr?

Es könnte unter anderem an der starken Verlagerung des Schwerpunkts zwischenmenschlicher Kommunikation in den letzten Jahren von der physischen Welt in die digitale liegen. Und auf Social-Media-Plattformen wie Instagram oder TikTok können wir zu einem guten Teil gar nicht mehr selbst entscheiden, welche Inhalte wir konsumieren. Das übernehmen für uns jetzt Algorithmen, deren Hauptziel es ist, uns möglichst lang auf der App zu halten und zur Interaktion zu bewegen.

https://strafrecht-online.org/br-tiktok

Aber wieso sollten Algorithmen, die unsere Interessen sowie unser Nutzungsverhalten analysieren, um anhand dessen auszuwählen, was sie uns zeigen, zu einer Angst vor der Spaltung der Gesellschaft beitragen? Naheliegend erscheint doch eigentlich, dass User:innen dank der Algorithmen Gleichgesinnte finden und ihr Feed irgendwann nur noch eine gleichgeschaltete Echokammer, einen Spiegel der eigenen Ansichten und Überzeugungen, verkörpert und damit zur Bubble mutiert. In der Konsequenz würde ja vielmehr der Eindruck entstehen, alle seien einer (um genau zu sein: meiner) Meinung. Daher kann die Angst also nicht rühren. Zudem konnte dieser wiederholt eifrig im medienkritischen Diskurs aufgegriffene Filterblasen-Mythos bislang noch nicht einmal zweifelfrei nachgewiesen werden.

https://policyreview.info/concepts/filter-bubble

Tatsächlich soll die Funktionsweise von Social-Media-Algorithmen, wohl insbesondere die von Instagram, noch viel hämischer ausgestaltet sein. Denn was uns möglichst lange auf den großen Social-Media-Plattformen hält, ist nicht der Kontakt zu Gleichgesinnten, sondern der Hass auf Andersdenkende. Menschen kommentieren viel eher diejenigen Beiträge, die ihren Ansichten zuwiderlaufen. Umso provokanter und extremer der Inhalt ist, umso eher kommt es zur Interaktion. Der Algorithmus merkt sich das dann und zeigt daraufhin weitere ähnliche Inhalte, die immer extremer werden – schließlich scheint es ja zu „gefallen“.

https://strafrecht-online.org/out-group-animosity

https://strafrecht-online.org/nau-instagram-algorithmus

Durch die unreflektierte Nutzung von Social Media kann somit der Eindruck entstehen, einige Personen würden sehr extreme und von den eigenen Überzeugungen abweichende Positionen vertreten. Das macht die Entstehung der Angst vor der Spaltung der Gesellschaft schon nachvollziehbarer.

Weitere Effekte kommen hinzu. So kann sich auch die eigene Position im Wege der Co-Radikalisierung in Reaktion auf eine wahrgenommene Radikalisierung anderer Personen verschieben und in die entgegengesetzte Richtung radikalisieren. Es kommt zu einem Teufelskreis: Die Fronten beeinflussen und befeuern sich unentwegt gegenseitig, die Meinungen driften immer weiter auseinander (Abbas Islamophobia and Radicalisation. A Vicious Cycle, 2019). Zudem neigt das menschliche Gehirn zur Pauschalisierung und Gruppierung. Man spricht von „social sorting“. Wer im Internet auf eine kontroverse Meinung stößt, ordnet sie pauschal dem „gegnerischen Lager“ zu. Sie wird nicht allein dem sich äußernden Individuum zugeschrieben, sondern auf die gesamte Gruppe projiziert.

https://strafrecht-online.org/social-sorting

https://strafrecht-online.org/abs-polarization

Dieses Gefühl der Spaltung und Distanz wird im Internet dadurch verstärkt, dass zu diesen fremden Personen anhand der zu Verfügung stehenden Informationen keine verbindenden Gemeinsamkeiten ausgemacht werden können. Es entsteht der Eindruck, es gebe überhaupt keine gemeinsame Basis. In der analogen Welt dagegen interagieren wir ganz überwiegend mit Menschen, zu denen wir zumindest über oberflächliche Gemeinsamkeiten, wie etwa denselben Beruf, das Wohnen in derselben Nachbarschaft oder auch die gleichen Hobbies, ein Grundmaß an Verbundenheit empfinden. Offline begegnet man sogar ganz überwiegend Gleichgesinnten. Wenn es doch einmal zu Meinungsverschiedenheiten kommt, sind sie durch das Vorhandensein einer gemeinsamen Basis leichter zu ertragen.

https://strafrecht-online.org/ideological-segregation

Die Omnipräsenz der AfD auf TikTok sowie der bezeichnenderweise erst im April erfolgte Beitritt der Grünen zu dieser Plattform zeigen: Man sollte auch diejenigen Social Media-Plattformen, die derzeit überwiegend von jungen Menschen genutzt werden, ernstnehmen, wie lächerlich man sie auch finden mag. Wenn man schließlich noch die zunehmend kaum mehr als solche zu erkennenden KI-generierten Inhalte miteinbezieht, sollte einem tatsächlich bange werden. Wie erfolgreich die Beteiligung an diesen neuen Kommunikationsmöglichkeiten sein wird, bleibt eine offene Frage. So funktioniert eine pluralistische Gesellschaft nun einmal. Wer es aber nicht einmal versucht, hat in jedem Falle verloren.


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