Rechtmäßiges Alternativverhalten/ Pflichtwidrigkeitszusammenhang
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Pflichtwidrigkeitszusammenhang; rechtmäßiges Alternativverhalten; Risikoerhöhungstheorie; in dubio pro reo
Problemaufriss
Auch bei Fahrlässigkeitsdelikten spielt der Gedanke der objektiven Zurechnung, wonach sich im tatbestandlichen Erfolg die geschaffene Gefahr realisieren muss, eine Rolle. Daraus ergibt sich das Erfordernis des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs. Dem Täter kann der Taterfolg nur zugerechnet werden, wenn sich in diesem gerade die „Pflichtwidrigkeit“ des Täterverhaltens, welche durch die Sorgfaltspflichtverletzung des Täters geschaffen worden ist, verwirklicht hat. Dieser Zusammenhang zwischen pflichtwidrigem Täterverhalten und Taterfolg fehlt unumstritten, wenn der missbilligte Erfolg objektiv unvermeidbar war, also auch bei pflichtgemäßen Alternativverhalten sicher eingetreten wäre. Fraglich ist jedoch, ob der erforderliche Pflichtwidrigkeitszusammenhang auch dann abzulehnen ist, wenn gerade zweifelhaft ist, ob der tatbestandsmäßige Erfolg auch bei pflichtgemäßen Alternativverhalten eingetreten wäre.
Beispiel (BGHSt 11, 1): L überholte mit seinem Lkw den Radfahrer R. Die Geschwindigkeit betrug dabei 25 km/h und der Seitenabstand ca. 75 cm. Nach der StVO wäre ein Abstand von mindestens 1,5 m geboten gewesen. Während des Überholvorgangs geriet R mit dem Kopf unter die rechten Hinterreifen des Anhängers, wurde überrollt und war auf der Stelle tot. Eine später der Leiche des R entnommene Blutprobe ergab eine BAK von knapp 2 ‰. Laut Sachverständigengutachten hätte sich der Unfall deshalb wahrscheinlich genauso zugetragen, hätte l den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand eingehalten, wenngleich das Risiko dann ein geringeres gewesen wäre. R hatte wegen seines angetrunkenen Zustands den Lkw erst nicht bemerkt, war dann plötzlich aufgeschreckt worden und hatte besonders heftig und unkontrolliert reagiert, indem er das Fahrrad stark nach links zog.
Hat sich L wegen fahrlässiger Tötung des R gem. § 222 strafbar gemacht, obwohl der Unfall wahrscheinlich auch bei pflichtgemäßen Alternativverhalten eingetreten wäre?
Problembehandlung
Ansicht 1: Nach der Risikoerhöhungslehre soll für die Zurechenbarkeit grundsätzlich genügen, dass das pflichtwidrige Verhalten des Täters das Risiko des Erfolgseintritts signifikant erhöht habe (Roxin Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2020, § 11 Rn. 88 ff.; Lackner/Kühl/Heger, 30. Aufl. 2023, § 15 Rn. 44). Ausnahmen bilden die folgenden zwei Konstellationen, in denen die Zurechnung trotz Risikoerhöhung abzulehnen sei:
(1) Der Erfolg wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch bei sorgfaltsgemäßen Verhalten eingetreten. In diesem Fall sei sicher, dass sich die Gefahrerhöhung gerade nicht im konkreten Erfolg realisiert habe.
(2) Es bestehen Zweifel, ob sich das Risiko überhaupt durch das pflichtwidrige Verhalten erhöht hat. In diesem Fall sei die Zurechnung nach dem Grundsatz in dubio pro reo zu verneinen.
Beispiel: Die Unterschreitung des gebotenen Abstands hat die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts (Tod des R) laut Sachverständigengutachten erhöht. Der Tod des R wäre dem L folglich objektiv zuzurechnen. Eine Strafbarkeit gem. § 222 käme in Betracht.
Kritik: Die Risikoerhöhungslehre führt dazu, „dass der Richter die Ursächlichkeit der Handlungsweise selbst bei beachtlichen, auf bestimmten Tatsachen beruhenden Zweifeln zu Lasten des Angeklagten bejahen müsste, solange nicht durch sichere Feststellungen der Beweis für den Mangel des ursächlichen Zusammenhangs erbracht ist" (BGHSt 11, 1). Dies macht sie mit dem Grundsatz in dubio pro reo unvereinbar (Rengier Strafrecht AT, 16. Aufl. 2024, § 52 Rn. 33). Ferner knüpft die Risikoerhöhungslehre die Strafbarkeit ausschließlich an die Sorgfaltspflichtverletzung an und wandelt somit Verletzungsdelikte gesetzeswidrig in Gefährdungsdelikte um (MüKo/Duttge, 5. Aufl. 2024\, § 15 Rn. 184).
Ansicht 2: Nach der Rechtsprechung des BGH (BGHSt 11, 1, 7; 37, 106, 127) und der herrschenden Lehre (Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Schuster, 30. Aufl. 2019, § 15 Rn. 129; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 54. Aufl. 2024, Rn.1136; Rengier Strafrecht AT, § 52 Rn. 33) sei der Pflichtwidrigkeitszusammenhang als objektives Zurechnungselement nicht nur zu verneinen, wenn die Unvermeidbarkeit des tatbestandlichen Erfolgs feststehe, sondern bereits dann, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Taterfolg in gleicher Weise auch bei pflichtgemäßen Alternativverhalten möglicherweise eingetreten wäre. Sobald nach den konkreten Umständen die Möglichkeit besteht, dass der Erfolg auch ohne Pflichtverletzung eingetreten wäre, muss dies nach dem Grundsatz in dubio pro reo zugunsten des Täters angenommen werden (Rengier Strafrecht AT, § 52 Rn. 33). Danach kann der tatbestandliche Erfolg dem Täter nur dann zugerechnet werden, wenn die Realisierung der Pflichtwidrigkeit im Taterfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehe (Studienkommentar StGB, 13. Aufl. 2021, § 222 Rn. 22).
Beispiel: Hier müsste in dubio pro reo davon ausgegangen werden, dass der angetrunkene R auch bei Einhaltung des gebotenen Abstands unter die Räder des Lkw gelangt wäre. Der Tod des R wäre L mangels Pflichtwidrigkeitszusammenhang nicht zuzurechnen. Eine Strafbarkeit gem. § 222 schiede aus.
Kritik: Die Schaffung eines unerlaubten Risikos durch den Täter, das sich möglicherweise sogar im tatbestandlichen Erfolg realisiert hat, wird strafrechtlich nicht gewürdigt (vgl. Roxin Strafrecht AT I, § 11 Rn. 90 ff.).
Die Seite wurde zuletzt am 26.3.2025 um 14.10 Uhr bearbeitet.
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