Geltung des Notstands für Hoheitsträger
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Notstand; Hoheitsträger
Problemaufriss
Das Problem, ob sich Hoheitsträger auf den rechtfertigenden Notstand (§ 34) berufen können, ist vor dem Hintergrund der Gesamtrechtsordnung zu sehen. Das öffentliche Recht enthält eine Vielzahl von Eingriffstatbeständen für Hoheitsträger (etwa in den Polizeigesetzen), die dem verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalt Rechnung tragen. Es stellt sich daher insbesondere die Frage, ob diese die Rechtmäßigkeit hoheitlichen Handelns abschließend regeln.
Beispiel (nach BGHSt 27, 260): Die Inhaftierten A und B sind bekanntermaßen hochrangige Mitglieder der Terrororganisation R, die dringend im Verdacht steht, einen Anschlag begangen zu haben. Bei diesem Anschlag wurden vier Menschen getötet und es wurde in der Person des S eine Geisel genommen. Der Generalbundesanwalt befürchtet, dass A und B über ihre Verteidiger mit der Außenwelt in Verbindung treten und so das Leben des S weiter gefährden könnten. In der Wohnung wurden Schriftstücke gefunden, die es nahelegen, dass sich A und B eingehend mit der Möglichkeit einer heimlichen Kommunikation aus dem Gefängnis heraus mit der Außenwelt befasst haben. Der Generalbundesanwalt möchte deshalb den mündlichen und schriftlichen Verteidigerkontakt, den § 148 I StPO garantiert, vorübergehend gerichtlich unterbinden lassen. Er verweist bezüglich dieser Maßnahme auf § 34.
Problembehandlung
§ 34 rechtfertigt einen Eingriff in ein fremdes Rechtsgut, wenn so ein anderes, von einem wesentlich schwerwiegenderem Interesse getragenes Rechtsgut geschützt werden soll.
Ansicht 1: Nach der h.M. können sich Hoheitsträger (auch im Hinblick auf Eingriffe in Individualrechtsgüter) grds. auf § 34 berufen. Streitig ist allerdings, welche einschränkenden Voraussetzungen dabei gelten. Während die Rechtsprechung ursprünglich von einer generellen Anwendbarkeit des § 34 ausging (BGHSt 27, 260, 262 f.), wird Hoheitsträgern mittlerweile überwiegend ein Rekurs auf die Notstandsregelung nur dann gestattet, wenn keine abschließenden öffentlich-rechtlichen Sonderregelungen existieren (Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 104; BGHSt 34, 39, 51 f.; Schönke/Schröder/Perron StGB, 29. Aufl. 2014, § 34 Rn. 7 m.w.N.). So sei beispielsweise eine Rechtfertigung heimlicher Tonbandaufnahmen durch die Polizei nur gem. §§ 100a f. StPO und nicht gem. § 34 vorzunehmen (Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 104). Die von der Gegenmeinung gesehene Gefahr des Missbrauchs des allgemeinen Notstandsparagraphen (§ 34) durch die Exekutive sei deshalb beherrschbar, "weil jede Handlung der Exekutive strenger gerichtlicher Kontrolle" unterliege (Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 103). Im Ausgangsfall stellte der BGH fest, dass § 34 in einer außergewöhnlichen Lage auch eine Verletzung § 148 I StPO erlaube. Weil diese Entscheidung jedoch dazu führe, dass die Beschuldigten keinen rechtlichen Beistand in Anspruch nehmen könnten, müsse den Beschuldigten auf deren Antrag oder von Amts wegen ein anderer Verteidiger bestellt werden, "wenn der Fortgang der gegen sie geführten Verfahren zu Situationen führt, in denen Rechtsrat durch einen Verteidiger unerläßlich ist" (BGHSt 27, 260, 265 f.). Die Auswahl des Verteidigers sei dabei vom Gericht zu treffen.
Kritik: Sinn und Zweck des § 34 sei es, in einer Notstandssituation die bürgerlichen Freiheiten gegenüber hoheitlichen Ver- und Geboten zu erweitern. Eine Einstufung der Notstandsregelung des § 34 als (Hoheitsträger berechtigende) Eingriffsnorm würde den freiheitserweiternden Gedanken hinter der Regelung in sein Gegenteil verkehren (Leipziger Kommentar StGB/Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 8). Außerdem genüge die allgemeine Regelung aus § 34 nicht den hohen verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an eine öffentlich-rechtliche Eingriffsermächtigung zu stellen seien: Die Norm beinhalte nämlich weder eine Konkretisierung der zulässigen Eingriffsmaßnahmen, noch lasse sie erkennen, welchen Trägern die Befugnisse zugewiesen seien (LK/Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 9).
Ansicht 2: Nach anderer Ansicht vermag § 34 hoheitliche Eingriffe in Individualrechtsgüter generell nicht zu rechtfertigen (LK/Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 7 ff.; Nomos Kommentar StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 113). Der verfassungsrechtliche vorgeschriebene Gesetzesvorbehalt dürfe nicht durch die Notstandsregelung unterlaufen werden (NK/Neumann, § 34 Rn. 113). Im Übrigen genüge § 34 auch nicht den formellen Anforderungen an eine Eingriffsermächtigung, da das Zitiergebot des Art. 19 I 2 GG ("Außerdem muss das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen") nicht gewahrt sei. Aus diesem Umstand könne zudem darauf geschlossen werden, dass die Deutung des § 34 als hoheitliche Eingriffsermächtigung der Intention des historischen Gesetzgebers widerspreche (LK/Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 10). Folgt man dieser Ansicht, so gelangt man zu dem Schluss, dass der hoheitliche Eingriff in das durch § 148 I StPO garantierte Recht auf Verteidigerkontakt der Beschuldigten nicht durch § 34 gerechtfertigt war.
Kritik: Gesetzliche Spezialregelungen enthalten nur eine bereichsspezifische Interessenabwägung, ihnen könne aber nicht entnommen werden, dass ein Rückgriff auf die Notstandsregelung schlechthin ausgeschlossen sein solle (vgl. Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 103 i.V.m. § 15 Rn. 113). Zudem könnten Notstandssituationen wegen ihrer Einzigartigkeit nicht konkreter beschrieben werden. Es ergebe aber keinen Sinn, der Exekutive aus diesem Grund die Befugnis zur sachgerechten Bewältigung zu nehmen (Roxin Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 103).
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