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Geltung der allgemeinen Rechtfertigungsgründe für Hoheitsträger







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Notwehr; Hoheitsträger; Nothilfe; Notstand; § 32


Problemaufriss



Insbesondere Polizeibeamte können in ihrer Funktion als Hoheitsträger in eine Notwehr-/Nothilfelage geraten. Es ist umstritten, ob sich ein Hoheitsträger außerhalb der polizeigesetzlichen Regelungen auf die allgemeinen Rechtfertigungsgründe berufen kann. Die Uneinigkeit rührt aus der Unklarheit der polizeigesetzlichen Regelungen zu den Eingriffsbefugnissen der Hoheitsträger. Einerseits sind dort insbesondere an den Schusswaffengebrauch hohe Anforderungen gestellt. Andererseits gibt es teilweise auch sog. Notrechtsvorbehalte, nach denen die allgemeinen Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt bleiben (vgl. bspw. § 57 II PolG NRW). Macht sich ein Hoheitsträger also strafbar, wenn seine Verteidigungshandlung die Voraussetzungen des jeweiligen Polizeigesetzes nicht erfüllt, aber nach den allgemeinen Rechtfertigungsgründen gerechtfertigt ist?
 
Beispiel 1: Um den Aufenthaltsort eines Entführungsopfers herauszufinden, foltert Polizist P den dringend Tatverdächtigen T, bis dieser den Aufenthaltsort preisgibt.
 
Beispiel 2: Die SEK-Beamtin P erschießt den Geiselnehmer G durch einen gezielten Kopfschuss, als dieser sie anzugreifen droht, obwohl noch nicht alle polizeilichen Maßnahmen der Krisenbewältigung ausgeschöpft waren.


Problembehandlung


Ansicht 1: Nach der öffentlich-rechtlichen Theorie ist der Rückgriff auf allgemeine Rechtfertigungsgründe für einen Hoheitsträger ausgeschlossen. Es bestünde sonst die Gefahr, dass die für das Verhalten von Hoheitsträgern (insbesondere Polizeibeamten) geltenden Vorschriften unterlaufen werden. Diese seien aber gerade mit besonderer Rücksicht auf die Schutzbedürftigkeit der Bürger vom Gesetzgeber festgelegt und müssten auch in einer Notwehr-/Nothilfesituation die Grenzen des staatlichen Handelns bilden. (Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2011, 12. Abschnitt Rn. 41 ff.; LK StGB/Rönnau/Hohn,13. Aufl. 2019, § 32 Rn. 220).


Kritik: Der Wortlaut der allgemeinen Rechtfertigungsgründe schließt hoheitliches Handeln nicht aus. Zudem wäre es sinnwidrig, einem Polizisten den Schutz von Individualrechtsgütern zu untersagen, während ein Privater diese Handlung vornehmen dürfte. Dies könnte private Reaktionen, wie z.B. Bürgerwehren begünstigen, was kriminalpolitisch äußerst unerwünscht ist. Dazu kommt, dass dem zugleich anwesenden Bürger die Möglichkeit einer Rettungshandlung aufgrund der Subsidiarität privaten gegenüber polizeilichem Handeln genommen wird; folglich wäre niemand mehr befugt, die erforderliche Hilfe zu leisten. (Roxin/Greco Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2020, § 15 Rn. 109; Schönke/Schröder/Perron StGB, 30. Aufl. 2019, § 32 Rn. 42c).


Ansicht 2: Nach der strafrechtlichen Theorie darf sich ein Hoheitsträger im Dienst uneingeschränkt auf die allgemeinen Rechtfertigungsgründe berufen, sodass eine strafrechtlich gerechtfertigte Handlung immer auch im öffentlich-rechtlichen Kontext als rechtmäßig zu beurteilen ist. (Schönke/Schröder/Perron/Eisele, 30. Aufl. 2019, § 32 Rn. 42c.; Rengier Strafrecht AT, 15. Aufl. 2023, § 18, Rn. 95f.) Man dürfe einem Polizeibeamten keine Schranken zur Verteidigung essenzieller Rechtsgüter auferlegen, die eine Privatperson nicht hat. (Rengier Strafrecht AT, § 18, Rn. 96). Darüber hinaus sei eine möglicherweise notwendige Einschränkung bereits dadurch gegeben, dass dem Polizeibeamten aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung noch andere Verteidigungsmittel als der Schusswaffengebrauch offenstehen könnten, sodass ein Schusswaffengebrauch nicht immer dann erforderlich i.S.d. § 32 sei, wenn es dies für eine Privatperson der Fall ist.


Kritik: Es besteht die Gefahr, dass spezielle Vorschriften des PolG, welche die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns gewährleisten, unterlaufen würden. Gegen diese Ansicht spricht außerdem, dass die Rechtfertigungsgründe ungeeignet sind, Lücken in den öffentlich-rechtlichen Handlungsbefugnissen auszufüllen, da dies die politische Entscheidung für ihre Schaffung verfälschen würde. Dass ein Polizist in der Notwehrsituation dann schlechter gestellt wäre als ein Privater, ist nichts Besonderes und ist auch über die Gefahrtragungspflichten beim entschuldigenden Notstand gem. § 35 so geregelt.


Ansicht 3: Eine differenzierende Ansicht unterscheidet zwischen der Rechtswidrigkeit im Polizeirecht und der Rechtswidrigkeit im Strafrecht. Aufgrund der ultima-ratio-Funktion des Strafrechts sei beides strikt zu trennen. So würde ein Polizist, der sich auf Notwehr beruft, zwar nach dem Polizeirecht rechtswidrig, nach dem Strafrecht aber gerechtfertigt handeln (MüKo StGB/Erb, 4. Aufl. 2020, § 32 Rn. 189; Klose ZStW 89 [1977], 61, 78; vgl. auch Roxin/Greco Strafrecht AT I, § 15 Rn. 111). Der Beamte hätte dann also auch keinen „Freifahrtschein“, da bei einem unrechtmäßigen Schusswaffengebrauch disziplinarische Ahndungsmöglichkeiten bestehen. (Kühl Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 7 Rn. 153 ff.) Hinter den verschiedenen Rechtswidrigkeitsurteilen stehen voneinander getrennte Rechtskreise (Staat-Bürger-Notwehradressat und Hoheitsträger-Staat), sodass eine unterschiedliche Beurteilung der Rechtswidrigkeit auch nicht dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung widerspreche. Diese Ansicht entspreche so auch am ehesten dem gesetzgeberischen Willen bezüglich der Notrechtsvorbehalte in den Landesgesetzen. (MüKo/Erb, § 32 Rn. 190 f., 194)


Zum Streitstand insgesamt: Hillenkamp/Cornelius 32 Probleme aus dem Strafrecht AT, 15. Aufl. 2017, 5. Problem.















Die Seite wurde zuletzt am 3.6.2024 um 8.18 Uhr bearbeitet.



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