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Rechtmäßiges, aber sozialwidriges Vorverhalten







Tags
Rechtfertigung; Notwehr; Provokation; leichtfertig; sonstige; Angriffsprovokation


Problemaufriss
Unstreitig steht das Notwehrrecht demjenigen uneingeschränkt zur Seite, der sich rechtmäßig und sozialadäquat verhält. Umstritten ist jedoch, ob das Notwehrrecht bei rechtmäßigem, aber sozialwidrigem oder moralisch missbilligenswertem Verhalten eingeschränkt werden soll. Der Streit rührt aus der Uneinigkeit darüber, welche Anforderungen an ein das Notwehrrecht einschränkende Verhalten zu stellen sind.
 
Beispiel: T geht davon aus, dass der Betrunkenen J ohne ein entsprechendes Ticket in der 1. Klasse fährt und will diesen aus seinem Zugabteil herausekeln. Nachdem er dazu wiederholt das Fenster öffnet, kommt es zu einem Angriff des J. T sticht dem J ein Messer in den Bauch, woran dieser später verstirbt. (BGHSt 42, 97)
 
Problembehandlung
 
Ansicht 1: Nach einem Teil der Lehre, führt rechtmäßiges Vorverhalten nie zu einer Einschränkung des Notwehrrechts. (Münchener Kommentar StGB/Erb, 4. Aufl. 2020, § 32 Rn. 233; Roxin/Greco Strafrecht AT I, § 15 Rn. 73; Rengier Strafrecht AT, 15. Aufl. 2023, § 18 Rn. 78; Schönke/Schröder/Perron/Eisele Strafgesetzbuch, 30. Auflage 2019, § 32 Rn. 59). Der Täter verlässt erst bei rechtswidrigem Vorverhalten den Boden des Rechts, sodass eine Einschränkung des Notwehrrechts auch erst dann zu rechtfertigen sei.
 
Ansicht 2: Die vorherrschende Ansicht, insbesondere die Rechtsprechung schränkt das Notwehrrecht unter bestimmten Voraussetzungen schon bei rechtmäßigem, aber sozialethisch missbilligenswertem Verhalten ein. Das (Vor-)Verhalten des Verteidigers müsse den Angriff bei vernünftiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalls als adäquate und voraussehbare Folge erscheinen lassen. (BeckRS 2018, 19966) Die bloße Kenntnis oder „billigende Annahme“ genüge dafür hingegen nicht (BeckRS 2021, 11345). Darüber hinaus müsse zwischen dem Vorverhalten und dem ausgelösten eingriff ein enger räumlicher und zeitliche Zusammenhang bestehen (BGH NStZ 2016, 84; NStZ 2019, 263). Liegen diese Voraussetzungen vor, sei das Notwehrrecht ähnlich wie bei der Absichtsprovokation nach der Drei Stufen Theorie einzuschränken. (BGH HRRS 18 Nr. 919, Rn. 11 m.w.N.)
 
Kritik: Gegen eine Einschränkung des Notwehrrechts unterhalb der Schwelle rechtswidrigen Vorverhaltens spricht, dass das Kriterium der Sozialwidrigkeit zu unbestimmt ist und daher keine klare rechtliche Bewertung zulässt. Außerdem würde so eine Unterscheidung zwischen der Ausübung von "gutem" und "schlechtem" Recht vorgenommen werden. Die Rechtsordnung kennt jedoch keine solche Unterscheidung, weshalb die Legitimation fragwürdig ist (Roxin/Greco Strafrecht AT I, § 15 Rn. 73; Leipziger Kommentar/Rönnau/Hohn, 13. Auflage 2019, § 32 Rn. 255)















Die Seite wurde zuletzt am 15.5.2024 um 9.12 Uhr bearbeitet.



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