### Tags
Notwehr; Nothilfe; Staatsnotwehr
### Problemaufriss
Gem. § 32 II ist die Notwehr die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich (Notwehr) oder einem anderen ([Nothilfe](https://strafrecht-online.org/problemfelder/at/rw/notwehr/nothilfe/)) abzuwenden. Dem Notwehr-/Nothilferecht des § 32 liegt das Individualschutzprinzip zugrunde, sodass grundsätzlich nur Individualrechtsgüter notwehrfähig sind. (<em>Rengier</em> Strafrecht AT, 15. Aufl. 2023, § 18 Rn. 1). Hiervon sind somit auch die Individualrechtsgüter des Staates als juristische Person umfasst (Schönke/Schröder/<em>Perron/Eisele</em> Strafgesetzbuch, 30. Auflage 2019, § 32 Rn. 6). Die Allgemeinheit (und ihre Rechtsgüter) sind also kein „anderer“ im Sinn des § 32 Abs. 2, sodass zum Beispiel die Umwelt kein taugliches Rechtsgut darstellt.
**Möglicherweise ist von dem Grundsatz des Individualschutzprinzips eine Ausnahme in Fällen der sog. „Staatsnotwehr“ zu machen.** Hier handelt es sich nicht um Kollektivrechtsgüter der Allgemeinheit, sondern des Staates.
**Beispiel :** Spion S wird von T überwältigt ehe der die Grenze mit wichtigen Staatsgeheimnissen überschreiten kann (Schönke/Schröder/<em>Perron/Eisele</em> StGB, § 32 Rn. 6). Ist T nach § 32 gerechtfertigt?
### Problembehandlung
**Ansicht 1:** Nach einer Ansicht (MüKo StGB/<em>Erb</em>, 4. Aufl. 2020, § 32 Rn. 101; *Roxin/Greco* Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2020, § 15 Rn. 41) sind Rechtsgüter des Staates <strong>nicht notwehrfähig</strong>. Das Notwehrrecht sei auf die Verteidigung von Individualrechtsgütern beschränkt, davon sei auch hier keine Ausnahme zu machen. Die Fälle der sog. Staatsnotwehr würden sich von den sonstigen Fällen der Verteidigung von Rechtsgütern der Allgemeinheit nicht strukturell, sondern nur durch das hohe Gewicht des Angriffs unterscheiden. Allein deshalb dürfe die gewaltsame Auseinandersetzung von Privatpersonen um das Allgemeinwohl aber nicht zugelassen werden (MüKo StGB/<em>Erb</em>, § 32 Rn. 101). Stattdessen sei auf § 34 zurückzugreifen, der eine umfassende Interessenabwägung voraussetzt (<em>Roxin/Greco</em> Strafrecht AT I, § 15 Rn. 41). Darüber hinaus stünde dem sich zur Staatsnothilfe gedrängten Bürger auch das Festnahmerecht aus § 127 Abs. 1 StPO und das Widerstandsrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG zu, was zur Bewältigung eines solchen Angriffs völlig genüge. (MüKo StGB/<em>Erb</em>, § 32 Rn. 101)
**Kritik:** Der Staat ist eine juristische Person öffentlichen Rechts. Es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber dem Bestand des Staates weniger Schutz gewähren will als anderen Rechtsgütern (RGSt 63, 215, 220). Die Lösung über § 34 verschiebt lediglich die Probleme, welche die Frage der Staatsnotwehr aufwirft (Schönke/Schröder/<em>Perron/Eisele</em> StGB, § 32 Rn. 7).
<strong>Ansicht 2:</strong> Nach **herrschender Ansicht** (Schönke/Schröder/<em>Perron/Eisele</em> StGB, § 32 Rn. 6; Lackner/Kühl/<em>Heger</em> StGB, 30. Aufl. 2023, § 32 Rn. 3) soll eine Staatsnotwehr in Frage kommen, wenn ein Einschreiten staatlicher Organe ausgeschlossen sei und ohne private Nothilfe schwerste Schäden drohen würden. Dies ergebe sich aus dem Sinn und Zweck des Notwehrrechts: Das Verteidigungsrecht aus § 32 werde dem Einzelnen aus dem Grund zugestanden, dass staatliche Hilfe nicht immer und sofort verfügbar sei. Daher sei auch für die Staatsnothilfe ein Nothilferecht zuzustehen, wenn ein Einschreiten staatlicher Organe nicht möglich ist, sodass <strong>Rechtsgüter des Staates eingeschränkt nothilfefähig seien</strong> (Schönke/Schröder/<em>Perron/Eisele</em> StGB, § 32 Rn. 6).
**Kritik:** Sind "höchste Staatsinteressen" bedroht, so ist zu befürchten, dass sich Privatpersonen bei deren Verteidigung zu Übermaßhandlungen hinreißen lassen. Eine Staatsnotwehr stößt hier daher erst recht auf Bedenken (MüKo/<em>Erb</em>, § 32 Rn. 101). Die Berufung auf eine Verteidigung "höchster Staatsinteressen" hat außerdem schon in der Weimarer Republik zur Rechtfertigung von Gewalt aus politischen Motivationen gedient. Es besteht also eine gewisse Missbrauchsgefahr (<em>Roxin/Greco</em> Strafrecht AT I, § 15 Rn. 41; MüKo StGB/<em>Erb</em>, § 32 Rn. 101).