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Begründung und Geltungsumfang der actio libera in causa

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### **Tags** actio libera in causa; alic; a.l.i.c.; Schuldunfähigkeit; § 20; Koinzidenzprinzip; Ausnahmemodell; Ausdehnungsmodell; Tatbestandsmodell; Vorverlagerungsmodell; Modell der mittelbaren Täterschaft; Erfolgsdelikte; verhaltensgebundene Delikte ### **Problemaufriss** Umstritten ist, wie Konstellationen der sog. actio libera in causa (im Folgenden: a.l.i.c.) zu behandeln sind. Das meint Fälle, in denen sich der potenzielle Täter im Zeitpunkt der eigentlichen Tathandlung in einem Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) befindet, den Grund für diese Schuldunfähigkeit im Vorhinein allerdings eigenständig gesetzt hat. Zwar stellt § 323c solches Verhalten unter Strafe, allerdings sieht diese Vorschrift nur einen Höchstrahmen von 5 Jahren vor. Daher haben sich unterschiedliche Lösungsansätze entwickelt. ### **Problembehandlung** **Beispiel:**  T möchte ihren nervenden Sohn O töten. Dazu beschließt sie, die Flasche Doppelkorn vom vergangenen Silvester zu leeren. Dadurch möchte sie sich in einen Zustand rauschbedingter Schuldunfähigkeit versetzen, um in diesem Zustand den O zu töten und mangels Schuldfähigkeit nicht bestraft werden zu können.   Zur Untersuchung, wie das Handeln der T strafbar ist, kann an zwei Handlungen angeknüpft werden: 1.    das tatbestandsmäßige Verhalten im Rauschzustand (im Bsp. die Tötungshandlung) 2.    das Sichberauschen (im Bsp. das Betrinken)   **Ansicht 1:  Ausnahmemodell** Vertreter des sog. Ausnahmemodells knüpfen weiter an das tatbestandsmäßige Verhalten im Rauschzustand an. Allerdings machen sie eine Ausnahme vom Koinzidenzprinzip des § 20, wonach es auf die Schuldunfähigkeit *bei* Begehung der Tat ankommt. (<em>Hruschka</em> JuS 1968, 554, 558 ff.; *ders.* JZ 1996, 64 ff.). Eine Ausnahme sei deswegen zu machen, weil derjenige Täter rechtsmissbräuchlich handele, der sich auf einen Strafbarkeitsmangel beruft, den er selbst vorsätzlich herbeigeführt hat.   **Kritik:**  Das Ausnahmemodell ist mit Art. 103 II GG nicht vereinbar, da sich dieses über den Wortlaut von § 20 hinwegsetzt (konkret dem Wort „bei“) (<em>Frister</em> Strafrecht AT, 10. Aufl. 2023, 18. Kapitel Rn. 18; *Rengier* Strafrecht AT, 15. Aufl. 2023, § 25 Rn. 9).   **Ansicht 2:**  **Ausdehnungsmodell**                                                                                                                                    Vertreter des sog. Ausdehnungsmodells knüpfen ebenfalls an das tatbestandsmäßige Verhalten im Rauschzustand an. Sie wollen den Begriff der *Tat* i.S.v. § 20 extensiv auslegen und den Zeitraum von Beginn des Sich-Betrinkens bis hin zur Vollendung der tatbestandsmäßigen Handlung mit einbeziehen (MüKo StGB/<em>Streng</em>, 4. Aufl. 2020, § 20 Rn. 128; *Streng* JuS 2001, 542 ff.).   **Kritik:**  Eine Legaldefinition des Begriffes "bei Begehung der Tat" findet sich in § 8 S. 1. Außerdem ist nicht ersichtlich, wieso eben dieser Begriff in § 20 anders zu verstehen sein soll als in §§ 16, 17. Eine extensive Auslegung verstößt somit ebenfalls gegen Art. 103 II GG (vgl. *Rengier* AT, § 25 Rn. 11, 9; *Frister* AT, 18. Kapitel Rn. 18).   **Ansicht 3:**  **Tatbestandsmodell**  Das **herrschende** Tatbestandsmodell löst die Problemlage über die allgemeinen Zurechnungsregeln: Das Geschehen lasse sich mithilfe der conditio-sine-qua-non-Formel bis zum Zeitpunkt der Defektbegründung zurückverfolgen. Damit stelle das Sichberauschen die tatbestandsmäßige Handlung dar. Liegt in diesem Moment ein Schuldbezug vor, so könne hieran der Schuldvorwurf geknüpft werden. Der Versuch des fraglichen Deliktes beginne also mit der Herbeiführung des Defektzustandes; hiermit setze der Täter unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung an. Es reiche demnach aus, dass der Täter zu irgendeinem Zeitpunkt der Deliktsverwirklichung – hier also bei Eintritt in das Versuchsstadium – schuldfähig gewesen ist. (BGHSt 17, 259; 21, 381; *Rengier* Strafrecht AT, § 25 Rn. 12 ff.).   **Kritik:**  Die Kausalität kann nicht stets mit Sicherheit festgestellt werden, da nicht zweifelsfrei ermittelt werden kann, ob die Tat ohne das Sich-Betrinken nicht begangen worden wäre. Außerdem erscheint es fragwürdig, bereits das Sich-Betrinken als Versuchsbeginn zu sehen, fehlt es hier doch i.d.R. noch an einer (subj.) unmittelbaren Gefährdung des geschützten Rechtsguts; eine Wertung, die derjenigen des § 22 zuwider läuft (NK StGB/<em>Paeffgen</em>, 6. Aufl. 2023, Vor § 323a Rn. 6).   **Ansicht 4:**  **Modell der mittelbaren Täterschaft** Mitunter wird eine Parallele zur Figur des mittelbaren Täters gem. § 25 I Var. 2 gezogen (<em>Jakobs</em> Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 17. Abschnitt Rn. 64): Demnach mache sich der Sich-Betrinkende selbst zum schuldlos handelnden Werkzeug, das den Tatbestand unmittelbar verwirklicht. Diese Einwirkung stelle daher die tatbestandliche Handlung dar. Im Ergebnis handelt es sich hierbei um eine Ausgestaltung der Ansicht 3.   **Kritik:**  Es liegen wesentliche Unterschiede zur mittelbaren Täterschaft vor. So hat der Täter gerade keine Steuerungsmöglichkeit mehr über den “Vordermann“. Auch fordert § 25 I Var. 2, dass die Tat „durch einen anderen“ begangen wird. (<em>Streng</em> JuS 2001, 540, 542). **Ansicht 5:**  **In Gänze ablehnende Auffassung** Schließlich lehnt eine weit verbreitete Ansicht die Konstruktion der a.l.i.c. aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken gänzlich ab. Wenn auch das Ergebnis möglicherweise einleuchtend sei, helfe das nicht über den Gesetzeswortlaut und die Verfassung hinweg. Der Gesetzgeber habe in § 323a mit dem Vollrauschtatbestand eine positivrechtliche Regelung geschaffen. Damit bestehe auch für alle weiteren Konstellationen kein Regelungsbedarf. (NK StGB/<em>Paeffgen</em>, Vor § 323a Rn. 25 ff.; BeckOK StGB/<em>Eschelbach</em>, 60. Edition 01.02.2024, § 20 Rn. 74).   **Kritik:**  Jedenfalls mit Blick auf das Ausnahme- sowie das Ausdehnungsmodell kann dem uneingeschränkt zugestimmt werden (s.o.). Das Tatbestandsmodell weist jedoch keine verfassungsrechtlichen Bedenken auf, sondern schöpft lediglich die dogmatischen Möglichkeiten des bestehenden Rechts aus (<em>Wessels/Beulke/Satzger,</em> Strafrecht AT, 53. Aufl. 2023, Rn. 669). ### ***Hinweis zur Bearbeitung in der Klausur*** *Es bietet sich folgende Prüfung an:* *A.   Prüfung der Strafbarkeit nach § …unter Anknüpfung an das tatbestandsmäßige Verhalten im Rauschzustand* *\- Schuld: Schuldunfähigkeit nach § 20 und Vorliegen der a\.l\.i\.c\. feststellen* *\- Schuld: Vorstellen der Ansichten Ausdehnungs\- und Ausnahmemodell \(da nur diese auch an das tatbestandsmäßige Handeln im Rauschzustand anknüpfen\) und Ablehnen diese Ansichten* *B.   Prüfung der Strafbarkeit nach § … unter Anknüpfung an das Sichberauschen i.V.m. den Grundsätzen der a.l.i.c.* *\- Tatbestand: Vorstellen der Ansichten: Vorverlagerungs\- und Tatbestandsmodell\, Modell der mittelbaren Täterschaft\, Unvereinbarkeitsmodell \(Streitentscheid zwischen diesen drei Ansichten\)* *\- Subjektiver Tatbestand: Doppel\-Vorsatz \(bzgl\. des Sichberauschens und bzgl\. der späteren Handlung\)* *\- Schuld: Schuldfähigkeit \(\+\)* *C.   § 323a (-), da die Tat gerade durch die Grundsätze der a.l.i.c. bestraft werden kann*   *Diese vorgestellte Prüfung beruht auf der h.M. des Tatbestandsmodells. Es empfiehlt sich nicht, dem Ausnahme- oder Ausdehnungsmodell zu folgen, da so wichtige Prüfungspunkte abgeschnitten werden. Wer der Unvereinbarkeitslehre folgt, beendet die Prüfung B. im Tatbestand und bejaht im Anschluss (C.) § 323a.* ### A.l.i.c. und verhaltensgebundene Delikte Die vorangegangenen Erläuterungen haben sich auf <strong>Erfolgsdelikte</strong> bezogen. Bei diesen ist es notwendig, dass der tatbestandsmäßige Erfolg zurechenbar verursacht wird. Gerade darauf beruht das Tatbestandsmodell, bei dem der Erfolg bereits dem Sichberauschen zugerechnet wird.   Anders sieht es daher bei <strong>verhaltensgebundenen Delikten</strong> aus. Bei diesen liegt der Unrechtsgehalt in der eigenhändigen Tätigkeit.   So muss beispielsweise i.R.d. <strong>[§§ 315c](https://dejure.org/gesetze/StGB/315c.html)</strong>, **[316](https://dejure.org/gesetze/StGB/316.html)** das "Führen" des Fahrzeuges schuldhaft erfolgen. Anknüpfungspunkt kann mithin nicht das schuldhafte "Verursachen des Führens" sein. Folglich können die Gedanken des Tatbestandsmodells bei verhaltensgebundenen Delikten nicht übertragen werden. Wegen des vergleichbaren Strafrahmens des **[§ 323a](https://dejure.org/gesetze/StGB/323a.html)** sind freilich auch keine Strafbarkeitslücken zu erwarten. Wichtigste Beispiele für verhaltensgebundene Delikte sind §§ 315c, 316, 153, 154 und <strong>[§ 21 StVG](https://dejure.org/gesetze/StVG/21.html)</strong>. ### Fahrlässige a.l.i.c. Wenn das Sichberauschen oder das tatbestandsmäßige Verhalten im schuldunfähigen Zustand fahrlässig begangen wurde, dann bedarf es keiner Anwendung der soeben ermittelten Konstruktionen. Denn Gegenstand aller fahrlässigen Erfolgsdelikte ist gerade <em>jedes</em> sorgfaltswidrige Verhalten, das den Erfolg herbeiführt. Insofern kann ohne Bedenken das Sichberauschen als tatbestandsmäßiges fahrlässiges Verhalten gesehen werden. Eine „fahrlässige a.l.i.c.“ ist somit überflüssig (<em>Wessels/Beulke/Satzger,</em> Strafrecht AT, Rn. 676). *** ### Hinweis *Liebe Nutzer:innen,* *zu diesem Problemfeld haben wir formale Hinweise und Verbesserungsvorschläge erhalten. Diese haben wir ausführlich überprüft und eingearbeitet.* *Vielen Dank für Ihre wertvollen Beiträge und Unterstützung!*

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