Maßstab zur Bestimmung der Eigenverantwortlichkeit einer Selbstgefährdung
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Verantwortungsbereich; freiverantwortliche; eigenverantwortliche; Selbstgefährdung; Selbstschädigung; Dritter; einverständliche; Fremdgefährdung; Abgrenzung
Problemaufriss
Jeder Rechtsgutsinhaber ist grundsätzlich befugt, seine eigenen Rechtsgüter zu gefährden oder zu verletzen, soweit nicht auch die Schutzinteressen anderer oder der Allgemeinheit mitbetroffen sind. Die objektive Zurechnung kann daher zu verneinen sein, wenn der tatbestandliche Erfolg durch eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers hervorgerufen wurde. Voraussetzung dafür ist, dass sich das Opfer tatsächlich selbst gefährdet (I.) und dass es dabei frei handelt (II.). Umstritten ist dabei, welcher Maßstab für die Bestimmung der zweiten Voraussetzung anzulegen ist.
Problembehandlung
I. Abgrenzung Selbstgefährdung - Fremdgefährdung
Zunächst muss eine Abgrenzung zwischen Fremd- und Selbstgefährdung stattfinden, was nach den Grundsätzen der Tatherrschaftslehre zu erfolgen hat (Rengier Strafrecht AT, 15. Aufl. 2023, § 13 Rn. 81). Liegt die Handlungsherrschaft beim Opfer, so ist eine Selbstgefährdung zu bejahen. Liegt die Herrschaft jedoch beim Täter, ist von Fremdgefährdung auszugehen. Fremdgefährdung ist daher dann anzunehmen, wenn sich jemand der durch einen anderen drohenden Gefahr aussetzt, sodass sein Schicksal in den Händen des Täters liegt (BayObLG NJW 1990, 131, 132).
II. Eigenverantwortlichkeit der Selbstgefährdung
Kommt die Abgrenzung zu dem Ergebnis, dass eine Selbstgefährdung vorliegt, so ist in einem nächsten Schritt zu prüfen, ob der Schädigende auch tatsächlich selbstbestimmt, also "frei" handelte. Strittig ist hierbei, nach welchen Kriterien die Eigenverantwortlichkeit zu beurteilen ist.
Ansicht 1: Die Vertreter der Einwilligungslösung sehen den sich selbst Gefährdenden als „Opfer seiner selbst“. Daher sei die Eigenverantwortlichkeit ausgeschlossen, wenn das Opfer auch gegenüber einem Dritten nicht wirksam auf seine Rechtsgüter verzichten könnte. (Wessels/Beulke/Satzger, 53. Aufl. 2023, § 6 Rn. 273). Maßgeblich seien mithin die Maßstäbe einer wirksamen Einwilligung, sodass die Einwilligung z.B. (konkludent) erklärt werden muss und keinen Willensmängeln unterliegen darf. (BGHSt 64, 121, 125 ff.; 64, 135, 139 f.; Lackner/Kühl, 30. Aufl. 2023, vor § 211 Rn. 13 ff.; Sch/Sch/Eser/Sternberg-Lieben, 30. Auflage 2019, vor § 211 Rn. 36).
Ansicht 2: Andere betrachten das Opfer als „Täter gegen sich selbst“ und stellen daher in analoger Anwendung auf die Exkulpationsregeln (§§ 20, 35 I StGB; § 3 JGG) ab (Roxin/Greco, Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2020, § 11 Rn. 114; Bottke GA 1983, 22 [31]). Gefragt wird danach, ob der Selbstgefährdende – bei ansonsten gleichbleibenden Umständen – als Täter gegen einen Dritten entschuldigt wäre. Die Eigenverantwortlichkeit ist nach dieser Ansicht nur ausnahmsweise bei allen zu verneinen, die nach den §§ 20, 35 I StGB; § 3 JGG schuld-unfähig sind.
Kritik: Damit die Exkulpationsregeln überhaupt greifen können, muss strafbares Unrecht vorliegen. Aber genau daran fehlt es bei Selbstschädigungen. Nicht erfasst werden zudem Fälle, in denen der Außenstehende durch das Hervorrufen von Motivirrtümern beim Opfer dessen selbstgefährdendes Verhalten erst auslöst. (Sch/Sch/Eser/Sternberg-Lieben, vor § 211 Rn. 36)
Hinweis: Besonders für diesen Streitstand ist zu beachten, dass die Ansichten häufig zum gleichen Ergebnis kommen und der Streit daher nicht entschieden werden muss.
Die Seite wurde zuletzt am 2.12.2024 um 15.30 Uhr bearbeitet.
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