### **Tags**
neutral; Alltagshandlungen; Handlungsfreiheit; Beihilfe; Autonomie; professionell adäquate Handlungen; sozialadäquates Verhalten
### **Problemaufriss**
Für eine Strafbarkeit wegen Beihilfe reicht es zunächst aus, dass der Gehilfe die Tat „irgendwie fördert“ und dolus eventualis bzgl. der Tat hat. Daher entsteht das Problem, dass auch ganz alltägliche Handlungen (<strong>neutrale Beihilfehandlungen</strong>) eine tatbestandliche Hilfeleistung darstellen können. Daher gibt es eine Reihe an Lösungsvorschlägen, die versuchen, alltägliche oder berufstypische Verhaltensweisen nicht zu bestrafen. Damit sollen die Berufs- und die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 12 I, 2 I GG) geschützt werden.
**Beispiel:** A ist Verkäufer in einem Baumarkt. Er weiß darum, dass seine Nachbarin N einen bitteren Streit mit ihrem Ehemann führt. Als die N sich im Baumarkt bei A nach einer Kettensäge erkundigt, hält A es für durchaus möglich, dass die N damit ihren Ehemann töten wird. Ihm ist dies freilich gleichgültig; er verkauft ihm die Kettensäge des Umsatzes wegen.
### **Problembehandlung**
**Ansicht 1:** Sehr vereinzelt wird vertreten, neutrales Verhalten sei genauso als Beihilfe **strafbar** wie jedes andere Beihilfeverhalten auch, sofern die weiteren Voraussetzungen des § 27 vorliegen (<em>Hruschka</em> JR 1984, 258 f.; *Dörn* DStZ 1992, 331 f.; *Niedermair* ZStW 107 [1995], 508 ff.). Es gebe keinen Grund für eine restriktive Handhabung des § 27 bei angeblich neutralen Verhaltensweisen.
**Kritik:** Gibt es keine Restriktion des § 27 im Bereich des Alltagshandelns, wären die **allgemeine Handlungsfreiheit** wie auch die **Berufsfreiheit** zu sehr eingeschränkt. Zudem könnten Erbringer von Dienstleistungen oder Händler sich nie sicher sein, dass ihre Leistungen oder ihre Waren nicht zur Begehung von Straftaten benutzt werden; annähernd jedes Verhalten kann eine derartige Doppelrelevanz haben (<em>Rengier</em> Strafrecht AT, 16. Aufl. 2024, § 45 Rn. 104).
**Ansicht 2:** Andere vertreten das Gegenteil: Neutrale Handlungen seien bereits aus dem **objektiven Beihilfetatbestand** auszuschließen. Es könne dann nicht von einer strafbaren Hilfeleistung die Rede sein, wenn die Handlung auch selbstständig, also ohne Bezug zur Haupttat, sinnvoll ist (so z.B. der bloße Verkauf von Gegenständen). So sei „sozialübliches Verhalten“ nicht vom Tatbestand des § 27 erfasst (<em>Murmann</em> JuS 1999, 548, 552; *Hassemer* wistra 1995, 41, 81 ff.).
**Kritik:** Für eine derart enge Auslegung des "Hilfeleistens" gibt der **Wortlaut** des § 27 nichts her. Weder Alltagshandlungen noch berufstypische Handlungen sind in jedem Fall neutral. Fast jede Handlung kann in einen strafbaren Kontext gestellt werden (BGH NJW 2000, 3010, 3111). Im Übrigen erweist sich das vorgebrachte Argument, sozialübliches Verhalten könne nicht strafrechtlich relevant sein, als zirkulär, da es gerade um die Frage geht, ob alltägliche Handlungen u.U. den Bereich des Sozialadäquaten verlassen und in denjenigen des Strafbaren übergehen können.
**Ansicht 3:** Wieder andere wollen auf die Kriterien der **objektiven Zurechnung** abstellen: Eine Strafbarkeit sei dann zu bejahen, wenn der potenzielle Gehilfenbeitrag ein über das Erlaubte hinausgehendes Risiko schaffe (<em>Wohlers</em> NStZ 2000, 169, 173; <em>Stratenwerth/Kuhlen</em>, 5. Aufl. 2004 § 12 Rn. 161). Um dem Einwand des Zirkelschlusses zu entgehen, bedürfe es weiterer Einschränkungen, um die Verneinung der objektiven Zurechnung zu konkretisieren. So sei hier eine Überschreitung des erlaubten Risikos dann anzunehmen, wenn es sich um eine in **§ 138** aufgelistete Straftat handelt, wonach die Nichtanzeige dieser Straftat strafbar wäre. Dadurch würde eine Abwägung zwischen dem Rechtgüterschutz und der Handlungsfreiheit vorgenommen werden (vgl. *Hefendehl* Jura 1992, 374, 376 f.).
**Kritik:** Diese Ansicht verkennt, dass nicht pauschal gesagt werden kann, bestimmte Handlungen seien „neutral“. Der Umstand, dass Sonderwissen des Täters (auch in Bezug auf „neutrales“ Verhalten), die objektive Zurechnung bejahen kann, wird in dieser Ansicht nicht berücksichtigt (<em>Rengier</em> Strafrecht AT, § 45 Rn. 107).
**Ansicht 4:** Die **Rechtsprechung** (BGH NJW 2006, 528; BGH NStZ 2000, 34) sucht wie auch **weite Teile der Literatur** (<em>Roxin</em> AT II, 2003, § 26 Rn. 221 ff.; LK/<em>Schünemann/Greco</em>, 13. Aufl. 2021, § 27 Rn. 17 ff.; <em>Rengier</em> Strafrecht AT, § 45 Rn. 116 f.) die Lösung im <strong>subjektiven Tatbestand</strong>. Eine neutrale Handlung sei in zwei Fällen strafbar.
1. Zum einen, wenn der Hilfeleistende weiß (dolus directus 2. Grades), dass das Handeln des Haupttäters ausschließlich darauf abziele, eine strafbare Handlung zu begehen.
2. Zum anderen, wenn der Hilfeleistende es für möglich hält, dass sein Tun zur Begehung einer Straftat genutzt werde. Diese zweite Fallgruppe führe ausnahmsweise dann zu einer Beihilfe, wenn das von dem Hilfeleistenden erkannte Risiko strafbaren Verhaltens derart hoch sei, dass er mit seiner Hilfeleistung objektiv erkennbar einen tatgeneigten Täter unterstütze.
Demnach sei eine Beihilfe nur für die Fälle ausgeschlossen, bei denen ein „deliktischer Sinnbezug“ fehlt.
**Kritik:** Es kommt aufgrund der inneren Einstellung zu einer Strafbarkeit des Täters, was im Ergebnis einem verfassungswidrigen Gesinnungsstrafrecht gefährlich nahekommt (<em>Pawlik</em>, GA 2006, [240](https://ebibliothek.beck.de/?typ=reference&y=300&z=GA&b=2006&s=240)). Im Übrigen wird nicht geklärt, wann der Haupttäter denn „ausschließlich“ darauf abzielt, eine Straftat zu begehen oder er „erkennbar tatgeneigt“ ist. (MüKo StGB/<em>Scheinfeld</em>, 5. Aufl. 2024, § 27 Rn. 91).