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Voraussetzungen der Garantenstellung aus besonderem persönlichen Näheverhältnis (effektive Familiengemeinschaft)







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Garantenstellung; Unterlassen; persönliches Näheverhältnis; Familiengemeinschaft; familiäre Verbundenheit; Eltern; Kinder; Geschwister; Ehe; Lebenspartnerschaft



Problemaufriss



Unechte Unterlassungsdelikte setzen nach § 13 I eine Garantenpflicht voraus. Eine solche kann sich aus einem persönlichen Näheverhältnis, insbesondere familiärer Verbundenheit ergeben. Voraussetzung ist grundsätzlich sowohl eine familienrechtliche Beziehung als formales Kriterium als auch eine tatsächliche familiäre Gemeinschaft als materielles Kriterium. Im Einzelnen sind Bestehen und Umfang der Garantenpflicht jedoch umstritten. 



Problembehandlung



I. Eltern und Kinder



Gegenüber ihren minderjährigen Kindern haben Eltern eindeutig eine Schutzpflicht. Sie ist begrenzt durch das erzieherisch Vertretbare (Ermöglichen eigener Erfahrungen) und besteht auch gegenüber dem anderen Elternteil. Entsprechende Pflichten gelten auch für Großeltern, die tatsächlich die Obhut übernehmen, sowie für Adoptiv- und Pflegeeltern.



Streitig ist jedoch das Verhältnis des Vaters zu seinem nichtehelichen Kind. 



Ansicht 1: Eine Garantenstellung wird wegen dem Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden angenommen.



Nach der Kindschaftsrechtsreform von 1998 hat der Vater eines nichtehelichen Kindes gem. § 1684 I BGB das Recht auf Umgang mit diesem (Kühl Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 18 Rn. 53). 



Kritik: Sofern der nichteheliche Vater nicht mit dem Kind zusammenlebt, fehlt ihm die Kontrollherrschaft, weil die Lebensgestaltung des Kindes nicht in Abhängigkeit zu seiner Betreuung steht (Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 32 Rn. 41).



Ansicht 2: Eine Garantenpflicht besteht nur, wenn der Vater tatsächlich die Betreuung (mit-)übernimmt (Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 41).



Kritik: Nach dem Zivilrecht kann der Vater durchaus Einfluss auf die Lebensgestaltung des nichtehelichen Kindes nehmen (Umgang und Sorgerecht, §§ 1684 I1626a I Nr.1 BGB). Auch das Verwandtschaftsverhältnis selbst legt eine Schutzpflicht nahe.



Umstritten ist auch, ob die Garantenpflicht gegenüber volljährigen Kindern, die nicht mehr im Haushalt leben, weiter besteht.



Ansicht 1: Eltern sind auch nach dem Auszug Beschützergaranten für ihre volljährigen Kinder, wenn die Beziehung intakt bleibt (Rengier Strafrecht AT, 16. Aufl. 2024, § 50 Rn. 14; Sch/Sch/Bosch StGB, 30. Aufl. 2019, § 13 Rn. 19/20; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 54. Aufl. 2024, Rn. 1184).



Kritik: Allein die moralische Pflicht genügt nicht zur Begründung strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Die alleinige Ableitung einer Garantenstellung aus sittlichen Beistandspflichten widerspricht Art. 103 II GG. Gleiches gilt für die zivilrechtliche Beistandspflicht (§ 1618 BGB). In dieser Situation besteht keine Kontrollherrschaft mehr (Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 41). 



Ansicht 2: Die Garantenstellung der Eltern gegenüber den Kindern entfällt, soweit die Kinder nicht mehr dem Schutzbereich ihrer Eltern unterliegen. Dies betrifft die Konstellation, wenn volljährige Kinder nicht mehr im Elternhaus, sondern selbständig leben (Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 39 ff.; LK/Weigend, 13. Aufl. 2020, § 13 Rn. 26).



Kritik: Nach dem Ende der Hausgemeinschaft besteht, sofern die Beziehung intakt ist, immer noch eine Familiengemeinschaft. Der Gesetzgeber hat die besondere Bedeutung enger Verwandtschaftsbeziehungen in §§ 16011618a BGB anerkannt. Wenn es auf die Hilfe in akuter Gefahr ankommt, ist daher unabhängig von einer Kontrollherrschaft Hilfe zu leisten (vgl. Rengier Strafrecht AT, § 50 Rn. 14).



Umstritten ist auch die Pflicht der Kinder im Verhältnis zu ihren Eltern.



Ansicht 1: Eine Garantenstellung besteht unabhängig von einer Hausgemeinschaft (BGHSt 19, 167). 



Kritik: Die Eltern sind in der Regel nicht konstitutionell abhängig von ihren Kindern, da diese keine Kontrollherrschaft ausüben. § 1618 BGB ist als programmatischer Satz zu verstehen, der keine strafrechtlich relevante Pflicht begründet (Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 42 f.).



Ansicht 2: Eine Garantenstellung kann nur angenommen werden, sofern eine Lebensgemeinschaft besteht (Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 42 f.; LK/Weigend, § 13 Rn. 26).



Kritik: Auch die elementare Familienbeziehung ist genauso schützenswert wie eine Lebensgemeinschaft. Auch §§ 16181601 BGB sieht solche Pflichten zwischen Familienangehörigen vor.



 



II. Geschwister



Umstritten ist auch die Garantenstellung zwischen Geschwistern.



Ansicht 1: Eine solche besteht, wenn die Geschwister in häuslicher Gemeinschaft zusammenleben (Rengier Strafrecht AT, § 50 Rn. 16; Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 44).



Kritik: Eine etwaige Garantenstellung hat enge Voraussetzungen, da auch das Zivilrecht keine Beistandspflichten zwischen Geschwistern normiert.



Ansicht 2: Eine Garantenstellung ist nur anzunehmen, wenn ein tatsächliches Obhutsverhältnis besteht (LK/Weigend, § 13 Rn. 26)



Kritik: Diese Auffassung berücksichtigt das formale Verwandtschaftsverhältnis nicht angemessen (Rengier Strafrecht AT, § 50 Rn. 16).



 



III. Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft



Ehepartner und Lebenspartner i.S.d. Lebenspartnerschaftsgesetzes sind füreinander grundsätzlich Beschützergaranten für den Schutz wichtiger Rechtsgüter. Fraglich ist, unter welchen Voraussetzungen diese Garantenstellung entfällt.



Die ganz überwiegende Meinung verlangt dafür, dass "sich ein Ehegatte vom anderen in der ernsthaften Absicht getrennt hat, die eheliche Lebensgemeinschaft nicht wiederherzustellen" (BGHSt 48, 301).



Ebenso wenig wie bloße Streitigkeiten die Garantenpflicht beseitigen, lässt sie sich allein durch das formale Bestehen der Ehe nicht begründen; ein berechtigtes Vertrauen auf Beistand besteht bei dauerndem Getrenntleben nicht mehr (Rengier Strafrecht AT, § 50 Rn. 19 ff.). Die Trennung muss sich manifestiert haben, ist aber auch innerhalb desselben Hauses oder derselben Wohnung möglich.



Bedeutsam ist außerdem die Frage, in welchem Umfang die Garantenstellung zwischen Ehe- und Lebenspartnern gilt. Sie bezieht sich eindeutig auf den Schutz wichtiger Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Freiheit des Partners. Es besteht aber keine Verpflichtung, bei freiverantwortlicher Selbstschädigung einzuschreiten. Auch Straftaten des Partners müssen nicht verhindert werden. Denn die Ehe beruht nicht auf Bevormundung, sondern auf Partnerschaft (Kühl Strafrecht AT, § 18 Rn. 56 ff.).



  



IV. Sonstige familiäre Verbundenheit



Diskutiert wird auch eine Garantenpflicht unter Verlobten.



Ansicht 1: Eine solche besteht nicht, da das Verlöbnis erst das Versprechen einer gemeinsamen Lebensgestaltung darstellt und dieses noch nicht in ein eheähnliches Zusammenleben übergeht (Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 52; Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 29. Abschnitt Rn. 65).



Kritik: Die Verlobten haben bewusst einen rechtlichen Rahmen für ihr Treueverhältnis gewählt (Sch/Sch/Bosch StGB, § 13 Rn. 18). 



Ansicht 2: Auch unter Verlobten besteht eine Garantenpflicht (Sch/Sch/Bosch StGB, § 13 Rn. 18).



Kritik: Das jederzeitig einseitig auflösbare Verhältnis begründet für sich allein genommen noch keine ausreichende Bindung (Roxin Strafrecht AT II, § 32 Rn. 52).



 



V. Sonstige Verhältnisse



Eine Beschützergarantenstellung kommt ferner in Betracht bei besonderen Näheverhältnissen, die mit der familiären Verbundenheit vergleichbar sind, insbesondere beim eheähnlichen Zusammenleben Unverheirateter. Einfache Freundschaften oder Liebesverhältnisse reichen dafür jedoch nicht aus (Rengier Strafrecht AT, § 50 Rn. 25).















Die Seite wurde zuletzt am 30.6.2025 um 18.43 Uhr bearbeitet.



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