Garantenstellung aus Ingerenz bei rechtmäßigem Vorverhalten
Problemaufriss
Damit sich jemand wegen eines unechten Unterlassungsdeliktes strafbar machen kann, ist gem. § 13 I StGB erforderlich, dass ihn eine „Rechtspflicht zum Handeln“ trifft. Eine solche Pflicht erfordert wiederum eine sog. Garantenstellung. Sofern man anerkennt, dass zur Begründung einer solchen das vorangegangene Verhalten des Täters (Ingerenz) herangezogen werden kann (siehe das Problemfeld hier), stellt sich die Frage, welche Qualität das Vorverhalten aufweisen muss, insbesondere, ob auch rechtmäßiges oder verkehrsgerechtes Vorverhalten genügt.
Beispiel 1 (nach BGHSt 23, 327): A verletzt seinen Zechkumpanen B mit einem Messerstich schwer; er wurde allerdings von B angegriffen, sodass A in Notwehr gem. § 32 StGB gehandelt hat. Obwohl A erkennt, dass B in Todesgefahr schwebt und er ihn durch Herbeirufen eines Arztes retten könnte, lässt er B hilflos zurück. Dabei nimmt er billigend in Kauf, dass B stirbt. B verblutet. Strafbarkeit des A gem. §§ 212, 13 I?
Beispiel 2 (vgl. Kühl AT § 18 Rn. 96): A fährt mit seinem Fahrrad in einer engen Straße, als ihm plötzlich der C mit seinem Kfz entgegenkommt. A nutzt die einzige ihm verbleibende Möglichkeit, sein Leben zu retten, auf den Gehweg auszuweichen und den dort laufenden B anzufahren. A lässt den nunmehr schwer verletzten B bewusst und ohne Hilfe zu leisten liegen. Nimmt man hier eine Rechtfertigung wegen Notstands gem. § 34 StGB an, fragt sich, ob A dennoch gem. § 13 StGB verpflichtet ist, dem B zu helfen.
Beispiel 3 (vgl. Joecks/Jäger Studienkommentar StGB, 12. Aufl. 2018, § 13 Rn. 61): Der wegen Trunkenheit auf einer Party aggressive A greift neben anderen Partygästen auch den B an. Letzterer weiß sich und den anderen nur dadurch zu helfen, dass er den A in einen Raum einsperrt. Die Gäste verweilen bis zum nächsten Morgen vor der verschlossenen Tür und wissen dann darum, dass der A nunmehr ausgenüchtert ist und sich beruhigt hat. Dennoch unterlassen sie es bewusst, die Tür zu öffnen. Strafbarkeit des A gem. §§ 239, 13 StGB?
Problembehandlung
Ansicht 1: Nach einer Ansicht soll es bereits ausreichen, dass der Täter durch sein Vorverhalten eine in Bezug auf den abzuwendenden Erfolg nahe, adäquate Gefahr verursacht hat. Dass das Vorverhalten pflichtwidrig ist, sei also nicht erforderlich (so wohl die frühere Rspr. BGHSt 3, 203, 204; BGH NJW 1958, 957, 958; Herzberg JZ 1986, 986, 988; vgl. Lackner/Kühl/Kühl StGB, 29. Aufl. 2018, § 13 Rn. 13; Maurach/Gössel/Zipf Strafrecht AT II, 8. Aufl. 2014, § 46 Rn. 98 ff.).
In allen drei Beispielen würde somit eine Garantenstellung des wegen Notwehr bzw. Notstands gerechtfertigten A bejaht.
Kritik: Jedes Vorverhalten ausreichen zu lassen, würde zu einer uferlosen Ausdehnung der Garantenstellung führen. Bei normativer Betrachtung wird hier außerdem gar nicht an die Schaffung einer Gefahr angeknüpft. Denn verursacht in dem Sinne, dass der zum Schaden führende Kausalverlauf in Gang gesetzt wurde, hat die Gefahr doch der Angreifer, indem er die Notwehrhandlung provoziert hat (Münchener Kommentar StGB/Freund, 4. Aufl. 2020, § 13 Rn. 152). Zudem wäre es ein erheblicher Widerspruch, den Angreifer, gegen den sich in Notwehr gewehrt wurde, stärker zu schützen als einen anderweitig, zufällig Verunglückten (BGH JZ 1971, 432; Roxin AT II, 2003, § 32 Rn. 183).
Ansicht 2: Nach anderer Auffassung müsse das Vorverhalten in Bezug auf die verursachte Gefahr pflichtwidrig sein (so wohl - freilich nicht ganz eindeutig - die neuere Rspr. BGH NJW 1973, 1706 f.; BGH NJW 1998, 1568, 1573; Schönke/Schröder/Bosch StGB, 30. Aufl. 2019, § 13 Rn. 35 f.; Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 48. Aufl. 2018, Rn. 1195 ff.; Systematischer Kommentar StGB/Stein, 9. Aufl. 2017\, § 13 Rn. 50 ff.). Der schon erwähnte Widerspruch im Rahmen des durch Notwehr gerechtfertigten Vorverhaltens sei nicht zu leugnen. Die Garantenstellung kraft Ingerenz stelle sich i.E. als eine Verlängerung eines Verletzungsverbotes dar (vgl. Jakobs Strafrecht AT\, 2. Aufl. 1991\, 29. Abschn Rn. 38). Wurde aber schon auf Primärebene keinem Verletzungsverbot zuwider gehandelt\, so bestehe auch kein Anknüpfungspunkt für Erweiterung des Pflichtenkreises.
Kritik: Das Widerspruchsargument mit Blick auf das durch Notwehr gerechtfertigte Vorverhalten ist nicht zwingend. Namentlich Herzberg führt hiergegen an, das notwehrrechtliche Gebot der Erforderlichkeit erfordere gar eine Rettungspflicht. Denn "erforderlich" i.S.d. § 32 sei ja lediglich die zum Körperverletzungerfolg führende Rettungshandlung, nicht jedoch das sich anschließende "Sterbenlassen" des Angreifers (Herzberg JuS 1971, 74, 75; ebenso Welp JZ 1971, 433, 434).
Ansicht 3: Schließlich wird vertreten – und das entspricht wohl der herrschenden Meinung –, dass zwar im Grundsatz ein pflichtwidriges Vorverhalten zu fordern sei. Jedoch sollen Einschränkungen in bestimmten Konstellationen gelten (Münchener Kommentar StGB/Freund, 3. Aufl. 2017, § 13 Rn. 152; Kindhäuser Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 36 Rn. 68; Rengier Strafrecht AT, 10. Aufl. 2018, § 50 Rn. 91 ff.). So sei in den Beispielen 2 und 3 jeweils eine Garantenstellung des zunächst gerechtfertigt Handelnden A zu bejahen.
Im Beispiel 2 stützt sich diese Erwägung darauf, dass die gefährliche Situation - anders als im Notwehrbeispiel - dem verunglückten Fahrradfahrer B nicht zuzurechnen sei. Sie entspringe vielmehr dem Organisationskreis des A, weshalb dieser zur Rettung verpflichtet sei.
Im Beispiel 3 (Dauergefahr) wird argumentiert, mit dem Einsperren des B sei die Gefahr ja schon beseitigt. Sobald eine solche Gefahr von dem B nicht mehr ausgeht, werde die Lage daher rechtswidrig, sodass eine Rettungspflicht angenommen werden müsse (Rengier AT. § 50 Rn. 93; Roxin AT II § 32 Rn. 189; Kindhäuser/Zimmermann Strafrecht AT, 9. Aufl. 2020, § 36 Rn. 69)
Kritik: Handelt jemand nicht pflichtwidrig – etwa weil er wegen Notstands gerechtfertigt ist –, so handelt er genauso mit Billigung der Rechtsordnung wie jemand, der mit dem Geschehen ansonsten nichts zu tun hat (vgl. Joecks/Jäger StGB § 13 Rn. 62). Letzteren trifft aber unproblematisch nur die allgemeine Solidaritätspflicht des § 323c. Im Beispiel 3 erscheint es unter normativen Gesichtspunkten zudem widersprüchlich, dem A, der kraft seines Mutes die anderen Partygäste vor weiteren Schäden bewahrte, eine Sonderpflicht aufzuerlegen, während die anderen mangels irgendeines Vorverhaltens allenfalls die allgemeine Solidarpflicht des § 323c StGB trifft.
Zum gesamten Streitstand: Hillenkamp/Cornelius 32 Probleme aus dem Strafrecht AT, 15. Aufl. 2017, 29. Problem.
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