Eingriff in den rettenden Kausalverlauf als Tun oder Unterlassen?
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Rettender Kausalverlauf; Tun; Unterlassen; Kausalität; Eingriff; Zurückziehen des Rettungsseils; Abgrenzung; passive Sterbehilfe; Rücktritt vom Gebotserfüllungsversuch; fremder Rettungsversuch; eigener Rettungsversuch; Risiko; Brunnenschacht
Problemaufriss
Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen erscheint auf den ersten Blick unproblematisch. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass insbesondere im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte Abgrenzungsschwierigkeiten auftreten (vgl. BGH NStZ 2003, 657 ff.). Ebenso problematisch sind Fälle in denen der rettende Kausalverlauf unterbrochen wird, sei es durch Abbruch der eigenen Rettungsbemühungen oder durch das Verhindern einer Rettung durch Dritte (Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 54. Aufl. 2024, Rn. 1164.).
Beispiel 1: A, B und C erkunden eine alte Burgruine. Unter dem Gewicht des A bricht eine morsche Abdeckung ein und er stürzt in einen Brunnenschacht. A droht zu ertrinken. C will A mit einem Seil heraufziehen. B nutzt die günstige Gelegenheit und schlägt C nieder, um die Rettung zu verhindern. A stirbt.
Beispiel 2: Wie oben, nur wollen B und C den A retten. Sie haben aber kein Seil dabei. Deshalb bitten sie den zufällig vorbeikommenden Wanderer W, ihnen sein Seil auszuleihen. W hat es jedoch eilig und ignoriert die Bitten von B und C.
Beispiel 3: O fällt bei einer Bootsfahrt ins Wasser. T wirft ihm einen an einem Seil befestigten Rettungsring zu. Er landet ein paar Meter von O entfernt. Bevor er ihn erreichen kann, zieht T das Seil wieder zurück. O ertrinkt.
Beispiel 4: O hat den Rettungsring erreicht. T ist gerade dabei ihn zum Boot zu ziehen. Dann überlegt er es sich anders und lässt das Seil fallen. O wird abgetrieben und stirbt.
Wie haben sich B, W und T strafbar gemacht?
Problembehandlung
Die verschiedenen Fallkonstellationen sind unterschiedlich zu behandeln:
1. Abbruch fremder Rettungsbemühungen
Wenn ein Täter aktiv in Rettungsbemühungen Dritter eingreift und auf diese Weise einen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit rettenden Kausalverlauf abbricht, besteht Einigkeit darüber, dass die Vorwerfbarkeit im aktiven Tun liegt. Sofern sich der Rettungsunwillige darauf beschränkt, den Rettungswillen nur nicht zu unterstützen, liegt ein Unterlassen vor. (Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, 54. Aufl. 2024, Rn. 1161; Rengier Strafrecht AT, 16. Aufl. 2024, § 48 Rn. 18; Roxin Strafrecht AT II, 2003, § 31 Rn. 114; Kühl Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 18 Rn. 20; Schönke/Schröder/Bosch StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 13 ff. Rn. 159 f.; Nomos Kommentar StGB/Gaede, 6. Aufl. 2023, § 13 Rn. 9).
Beispiel 1: B hat sich wegen Totschlags gem. § 212 I strafbar gemacht.
Beispiel 2: W hat sich mangels Garantenstellung (s. Problemfelder zur Garantenstellung hier) nur wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c strafbar gemacht.
2. Abbrechen eigener Rettungsbemühungen
Wie der Abbruch eigener Rettungsbemühungen zu beurteilen ist, ist strittig.
Ansicht 1: Nach herrschender Ansicht soll auf den Zeitpunkt abgestellt werden, an dem der rettende Kausalverlauf (das Rettungsmittel) die Sphäre des Opfers erreicht habe. Davor handele es sich um ein Unterlassen, danach um ein aktives Tun (Wessels/Beulke/Satzger Strafrecht AT, Rn. 1166; Schönke/Schröder/Bosch StGB, Vor §§ 13 ff. Rn. 160; NK/Gaede, § 13 Rn. 9).
Beispiel 3: Demnach hätte sich T wegen Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 I, 13 I (bei Vorliegen einer Garantenstellung) strafbar gemacht.
Beispiel 4: T hätte sich wegen Totschlags gem. § 212 I strafbar gemacht.
Kritik: Diese Ansicht harmoniert nicht mit der Auffassung, dass ein Täter, welcher Rettungsbemühungen Dritter verhindert, wegen aktiven Tuns bestraft wird. Es sollte für den Abbruch eigener Rettungsbemühungen nichts anderes der Fall sein (Rengier Strafrecht AT, § 48 Rn. 23).
Ansicht 2: Einer anderen Ansicht nach sei es nicht zwingend erforderlich, dass der rettende Kausalverlauf beim Opfer „angekommen“ sei. Aktives Tun läge bereits vor, wenn der Retter einen hypothetischen Kausalverlauf, den er selbst in Gang gesetzt habe und der das Opfer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet hätte, abbräche (Rengier Strafrecht AT, § 48 Rn. 22; Studienkommentar StGB/Joecks/Jäger, 13. Aufl. 2021, § 13 Rn. 18).
Beispiel 3 und 4: Nach dieser Ansicht hätte sich T wegen Totschlags gem. § 212 I strafbar gemacht, da T den Kausalverlauf durch den Wurf aus der Hand gegeben hat und O den Rettungsring selbst hätte erreichen können.
Kritik: Sofern für das Opfer eine realisierbare Rettungschance bereits bestand, hat der Täter durch den Abbruch des rettenden Kausalverlaufs, für das Opfer ein neues Risiko geschaffen (NK/Gaede, § 13 Rn. 9).
Diese Problematik wird von Rspr. und Literatur vielfach bei der sog. passiven Sterbehilfe, also dem Abschalten lebenserhaltender medizinischer Apparaturen, wie z.B. Beatmungsgeräte oder Magensonden, diskutiert. Dazu werden teilweise andere Ansichten vertreten (s. hier).
Die Seite wurde zuletzt am 2.6.2025 um 9.16 Uhr bearbeitet.
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