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Tun; Unterlassen; Abgrenzung; § 13
### Problemaufriss
Auf den ersten Blick scheinen sich aktives Tun und Unterlassen problemlos zu unterscheiden. Es gibt jedoch Fälle, in denen nicht sogleich klar ist, ob dem Täter ein Handeln oder ein Unterlassen anzulasten ist. Problematisch ist dies besonders in Abgrenzung zu Fahrlässigkeitsdelikten, bei Abbruch fremder oder eigener Rettungsbemühungen und bei dem Einstellen lebenserhaltender Medikation.
**Beispiel 1:** Radfahrer R fährt abends ohne Licht, sieht daher den Fußgänger F nicht und verletzt ihn, indem er ihn anfährt.
**Beispiel 2:** T zieht das in den Brunnenschacht geworfene Rettungsseil wieder hoch, bevor es den Hilfe suchenden O am Grund des Brunnens erreicht hat.
**Beispiel 3:** Arzt A schaltet das Gerät ab, das ein irreversibel bewusstloses Unfallopfer am Leben hält.
**Beispiel 4:** Tochter T schneidet den Schlauch der Magensonde ihrer im Wachkoma liegenden Mutter durch, was deren früher geäußerten Willen entsprach.
### Problembehandlung
**Ansicht 1:** Herrschend (BGHSt 6, 46, 59; 40, 257, 265 f.; Schönke/Schröder/<em>Bosch</em> StGB, 30. Aufl. 2019, Vor § 13 ff. Rn. 158a; Rengier, Strafrecht AT, 13. Aufl. 2013, § 48 Rn. 10; *Wessels/Beulke/Satzger* Strafrecht AT, 51. Aufl. 2021, Rn. 1159) wird die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen durch eine wertende Betrachtung gelöst. Maßgeblich soll sein, wo nach normativer Betrachtung und bei Berücksichtigung des sozialen Handlungssinnes der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens liegt.
**Kritik:** Der "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" sei ein vages und viel zu unbestimmtes Kriterium. Außerdem handele es sich hierbei um einen Zirkelschluss: Denn der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit wird durch die Strafwürdigkeit eines Verhaltens wesentlich bestimmt. Gerade diese soll jedoch erst geprüft, nicht aber in einer undifferenzierten Gesamtwürdigung des Verhaltens aufgrund gefühlsmäßiger Wertung vorausgesetzt werden *(Roxin* Strafrecht AT II, 2003, § 31 Rn. 79 f.).
**Ansicht 2:** Verbreitet ist auch eine Auffassung (<em>Jescheck</em>/<em>Weigend</em>, 5. Aufl. 1996, S. 603 f.; Systematischer Kommentar StGB/<em>Rudolphi/Stein</em>, 9. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 2 ff.; *Roxin* Strafrecht AT II, § 31 Rn. 78; grds. auch *Otto* Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 9 Rn. 2), die (mit unterschiedlichen Betonungen) für entscheidend hält, ob der Täter den Erfolg durch positiven **Energieeinsatz** verursacht hat oder ob er seine Energie gegenüber einem anderweitig in Gang gesetzten Kausalverlauf nicht eingesetzt hat.
**Kritik:** Die Abgrenzung nach Energieeinsatz erweist sich gerade bei mehrdeutigen Verhaltensweisen als untauglich. In Beispiel 1 wird etwa sowohl Energie eingesetzt (Fahrradfahren) als auch Energieaufwand unterlassen (Licht anschalten).
**Ansicht 3:** Schließlich verfährt eine dritte Lösung nach dem Subsidiaritätsprinzip (vgl. *Jäger* Strafrecht AT, 9. Aufl. 2019, Rn. 333; <em>Stratenwerth</em>/<em>Kuhlen</em> Strafrecht AT, 6. Aufl. 2011, § 13 Rn. 2 f.; *Kaufmann* FS Schmidt, 1962, S. 212): Zunächst ist scharf zwischen aktivem Tun (= Körperbewegung) und Unterlassen (= Nichtvornahme einer Körperbewegung) zu unterscheiden. Weil ein aktives Tun bereits unter geringeren Voraussetzungen strafbar ist, sind zunächst alle Körperbewegungen auf ihre Strafbarkeit hin zu überprüfen. Erst wenn feststeht, dass das aktive Handeln des Täters zwar vorsätzlich oder fahrlässig, aber nicht zurechenbar, rechtmäßig oder schuldlos war, muss weiter geprüft werden, ob der Täter ein zu erwartendes positives Tun unterlassen hat, durch das der Erfolg abgewendet worden wäre.
**Kritik:** Ein Unterlassen ohne vorangegangenes Tun scheine kaum denkbar (<em>Wessels/Beulke/Satzger</em> Strafrecht AT, Rn. 1159).