Fehlende Wahrnehmbarkeit des ehrverletzenden Gehalts der Äußerung
Tags: Beleidigung; fehlende Wahrnehmbarkeit; Deliktsnatur; § 185
Problemaufriss
Als Beleidigung i.S.d. § 185 wird die Kundgabe von Geringschätzung, Nicht- oder Missachtung verstanden. § 185 umfasst alle Ehrverletzungen, die nicht von den §§ 186, 187 abgedeckt werden (MüKo-StGB/Regge/Pegel, 5. Aufl. 2025, § 185 Rn. 3; Wessels/Hettinger/Engländer Strafrecht BT I, 48. Aufl. 2025, § 11 Rn. 467). Dabei kann die Beleidigung durch eine ehrenrührige Tatsachenbehauptung gegenüber dem Betroffenen oder einem Dritten begangen werden. Um eine Äußerung als herabsetzendes Werturteil zu interpretieren, kommt es auf den objektiven Sinn im konkreten Kontext an (NK-StGB/Kindhäuser/Hilgendorf StGB, 9. Aufl 2022, § 185 Rn. 5 f.).
Fraglich ist, ob eine Äußerung, deren ehrverletzender Gehalt nicht wahrgenommen wird, den Tatbestand erfüllt.
Beispiel: Auf dem Schreibtisch der M liegt ein Zettel mit einer eindeutig beleidigenden Äußerung, den ihr Ehemann A verfasst hat. M nimmt diesen Zettel wahr und erkennt die Schrift des A. Da M jedoch einen lästigen Putzauftrag vermutet, zerknüllt sie den Zettel gedankenverloren, ohne ihn gelesen zu haben.
Problembehandlung
Ansicht 1: Sofern man § 185 als Verletzungsdelikt ansieht (BGHSt 9, 17 (19); MüKo-StGB/Regge/Pegel, § 185 Rn. 3), müsste die Tathandlung das Rechtsgut der Ehre verletzen. Konsequenterweise erfordert die Vollendung der §§ 185 ff. die Kenntnisnahme der Ehrverletzung durch einen anderen. Daher müsste der andere den ehrenrührigen Sinn der Äußerung erfassen (Rengier Strafrecht BT II, 26. Aufl. 2025, § 28 Rn. 21 f.).
Beispiel: M nahm den ehrverletzenden Gehalt nicht zur Kenntnis. Der Tatbestand der Beleidigung wäre nicht erfüllt.
Kritik: Folgt man dieser Ansicht, würden Kinder bzw. Geisteskranke (ebenso wie Personen ohne entsprechende Sprachkenntnisse, die das Schimpfwort nicht verstehen) in ihrem Anspruch auf Achtung nicht verletzt werden, da sie den Angriff nicht als solchen wahrnehmen würden. Auf diese Weise wäre der Schutz der aufgeführten Personengruppen nicht gewährleistet (Rengier BT II, § 28 Rn. 22).
Ansicht 2: Einer anderen Ansicht nach ist die reine Kenntnisnahme bzw. sinnliche Wahrnehmung der Äußerung ausreichend. Argumentiert wird hierbei mit dem Schutzzweck der Beleidigung. Das geschützte Rechtsgut ist die Ehre, die Teil und Ausfluss der Personenwürde ist. Im Gegensatz zur Ansicht 1, wäre auf diese Weise der Schutz von Kindern etc. gewährleistet (BGH NJW 1951, 368; BeckOK StGB/Valerius, 66. Ed. 1.8.2025, § 185 Rn. 1).
Beispiel: Hält man bereits die sinnliche Wahrnehmung für ausreichend, wäre vorliegend eine Beleidigung anzunehmen.
Kritik: Sofern jemand den ehrverletzenden Sinn nicht versteht, kann zwar ein Versuch vorliegen, den Achtungsanspruch des Betroffenen zu verletzen. Allerdings besteht in solchen Fällen keine reale Gefahr, dass der soziale Geltungsanspruch des Betroffenen beeinträchtigt wird (RG 65 21, BGH 9 19; TK-StGB/Eisele/Schittenhelm, 31. Aufl. 2025, § 185 Rn. 16). So würde eine versuchte Beleidigung als vollendete behandelt werden, der konkrete Rechtsgutsbezug fehle.
Ansicht 3: Schließlich wird auch vertreten, § 185 sei ein konkretes Gefährdungsdelikt (Fischer StGB/Fischer, 72. Aufl. 2025, § 15 Rn. 59; Amelung in: FS Rudolphi, 2004). Deswegen müsste die (ggf. qualifizierte) Wahrscheinlichkeit eines Verletzungserfolgs bestanden haben oder ein Zustand eingetreten sein, bei dem der Verletzungserfolg nur durch Zufall ausgeblieben ist (Roxin/Greco Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2020, § 11 Rn. 151). Insbesondere werde nur so der notwendige Rechtsgutsbezug hergestellt.
Beispiel: A hatte alle Bedingungen dafür geschaffen, dass M die Beleidigung zur Kenntnis nehmen würde. Dass M sie nicht las, war reiner Zufall. Eine Beleidigung würde bestehen.
Kritik: Ohne jedes Verständnis der Äußerung werde die gesellschaftliche Teilhabe der Betroffenen weder durch die Einwirkung auf Dritte, noch durch die Einwirkung auf den Betroffenen selbst gefährdet (Matt/Renzikowski StGB/Gaede, 2. Aufl. 2020, StGB § 185 Rn. 16-18). Strukturell stehe auch dieses Modell dem Versuch näher, die Vollendung des Delikts werde zu weit vorverlegt und umgehe dadurch die fehlende Strafbarkeit des Versuchs (MüKo-StGB/Regge/Pegel, 5. Aufl. 2025, § 185 Rn. 40; Wessels/Hettinger/Engländer, BT I, 48. Aufl. 2025, Rn. 444).
Die Seite wurde zuletzt am 24.11.2025 um 17.08 Uhr bearbeitet.
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