Abgrenzung Irrtum und reines Nichtwissen
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Unwissenheit; Mitbewusstsein; sachgedanklich; reflektiert; Schwarzfahrer; Fehlvorstellung; positiv; ignorantia facti
Problemaufriss
Ein Irrtum beschreibt als Resultat einer Täuschung das Auseinanderfallen von Vorstellung und Wirklichkeit bei dem Opfer; er bezieht sich dabei stets auf Tatsachen (Studienkommentar StGB/Joecks/Jäger, 13. Aufl. 2021, § 263 Rn. 69). Umstritten ist jedoch, wie intensiv die Fehlvorstellung des Getäuschten sein muss, mithin ob bereits sein bloßes Nichtwissen ausreicht (ignorantia facti).
Beispiel 1: A setzt sich in den Zug, ohne ein Ticket gelöst zu haben. Der Schaffner läuft durch den Zug, ohne A zu kontrollieren, da er davon ausgeht, alle Fahrgäste hätten eine Fahrkarte.
Beispiel 2: B setzt sich in den Zug, ohne ein Ticket gelöst zu haben. Als der Schaffner das Abteil betritt und fragt, ob noch jemand zugestiegen sei, bleibt B ruhig.
Problembehandlung
Ansicht 1: Nach herrschender Auffassung muss sich der Getäuschte eine der Wirklichkeit widersprechende Tatsache positiv vorstellen und sie für wahr halten (Wessels/HillenkampStrafrecht BT II, 43. Aufl. 2020 Rn. 512). Dabei genügt unreflektiertes, "sachgedankliches" Mitbewusstsein (Wessels/Hillenkamp Strafrecht BT II, Rn. 511), nicht aber die bloße Unkenntnis einer Tatsache (sog. ignorantia facti; Münchener Kommentar StGB/Hefendehl, 4. Aufl. 2022, § 263 Rn. 336 ff.).
Beispiele: Lediglich in Beispiel 2 unterliegt der Schaffner einem betrugsrelevanten Irrtum; in Beispiel 1 fehlt es an einer entsprechenden Vorstellung des Schaffners (vgl. Rengier Strafrecht BT I, 23. Aufl. 2021, § 13 Rn. 49). Ein Irrtum kann ferner in den Fällen angenommen werden, in denen unbewusst Falschgeld entgegengenommen wird, das Opfer mithin über die Echtheit des Geldes irrt, oder in denen sich ein Kunde bewusst auf Grundlage der angegebenen Abgaswerte für den Kauf eines bestimmten Autos entscheidet, wobei er darüber irrt, dass der Hersteller die Emissionstestergebnisse nicht mittels Einbaus einer Abschalteinrichtung manipuliert hat (vgl. MK/Hefendehl, § 263 Rn. 338f.).
Kritik: Die Begriffe der positiven Fehlvorstellung und der bloßen Unkenntnis sind nicht klar gegeneinander abgrenzbar; ferner wird auch beim Betrug durch Unterlassen der Irrtum mit dem schlichten Nichtkennen der Wahrheit gleichgesetzt (Schönke/Schröder/Perron StGB, 30. Aufl. 2019, § 263 Rn. 37).
Ansicht 2: Nach der Gegenauffassung genügt das Nichtwissen der maßgeblichen Tatsache für die Annahme eines Irrtums bzw. das unkonkretisierte Gefühl "alles sei in Ordnung" (Schönke/Schröder/Perron StGB, § 263 Rn. 36).
Beispiele: In beiden Beispielen ist ein Betrug zu bejahen; so hat der Schaffner in Beispiel 1 zumindest die Vorstellung "alles sei in Ordnung".
Kritik: Die "Alles in Ordnung"-Formel erscheint zu unkonkret, da sie nicht auf den Grund für die entsprechende Einschätzung des Opfers rekurriert: Soweit dieses Gefühl auf diffus-undifferenziertem Allgemeinvertrauen oder der Empfindung beruhigender Sicherheit und Zuversicht beruht, kann jedenfalls kein betrugsrelevanter Irrtum vorliegen (MK/Hefendehl, § 263 Rn. 341).
Die Seite wurde zuletzt am 18.4.2023 um 9.31 Uhr bearbeitet.
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