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Ziegenhaar-Fall (RGSt 63, 211)







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Ziegenhaarfall; Kausalität; Tun/Unterlassen


Sachverhalt


Der Angeklagte (A) hat für seine Pinselfabrik von einem Händler chinesische Ziegenhaare bezogen. Trotz der Mitteilung des Händlers, dass er die Ziegenhaare zunächst desinfizieren müsse, hat er diese ohne vorherige Desinfektion durch seine Arbeiter zu Pinseln verarbeiten lassen. Fünf Arbeiter, die mit den Haaren in Kontakt kamen, wurden durch Milzbrandbazillen, mit denen die Haare behaftet waren, angesteckt. Vier sind an Milzbrand verstorben, ein Arbeiter überlebte.


Entscheidung


Erste Instanz


Das Gericht in der ersten Instanz verurteilte A wegen § 222in vier Fällen und § 229 in einem Fall. Die fahrlässige Handlung lag einerseits darin, dass A auf Grund der Mitteilung des Händlers damit  rechnen musste, dass die erworbenen Haare nicht bereits desinfiziert wurden, andererseits habe er gewusst, dass die Verarbeitung nicht desinfizierter ausländischer Ziegenhaare für die damit arbeitenden Personen mit einer hohe Gefahr der Ansteckung mit Milzbrandbazillen verbunden sei.


Zweite Instanz


Das Berufungsgericht sprach A frei wegen fehlender Kausalität. Auch bei ordnungsgemäßer Desinfektion der Ziegenhaare durch A wäre nämlich eine Infektion mit Milzbranderregern möglich gewesen.


Entscheidung des Reichsgerichts


Das Reichsgericht musste demnach entscheiden, ob allein die Möglichkeit, dass bei ordnungsgemäßer Desinfektion (als pflichtgemäßes Verhalten) ebenfalls eine Ansteckung möglich gewesen wäre, zum Entfall der Kausalität führt.


Dazu argumentierte das Reichsgericht wie folgt:


"Liegt aber im einzelnen Falle der Nachweis vor, daß ein schädigendes Ereignis tatsächlich als Wirkung eines menschlichen Verhaltens eingetreten ist, dann genügt zur Verneinung des Ursachenzusammenhangs nicht schon die bloße, schwer oder gar nicht zu berechnende Möglichkeit einer Ursache, welche die gleiche Wirkung hätte haben können, wenn jene tatsächlich wirksam gewordene Bedingung nicht vorhanden gewesen wäre. Nur wenn die Gewißheit oder eine an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit dafür vorläge, daß das schädigende Ereignis auch eingetreten sein würde, wenn das schuldhafte Verhalten nicht vorausgegangen wäre, so würde damit der Beweis geliefert sein, daß dieses Verhalten jenen Erfolg nicht verursacht habe" (RGSt 63, 211, 213 f.).


Fazit: Die Kausalität bei fahrlässiger Erfolgsherbeiführung entfällt nicht bereits dadurch, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Erfolg auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten wäre. Vielmehr muss der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch dann eintreten, wenn das pflichtgemäße Verhalten hinzugedacht wird, um die Kausalität verneinen zu können.


Beachte: Zur Frage, ob dem Angeklagten ein Tun oder Unterlassen (§ 13) vorzuwerfen ist, nimmt das Reichsgericht nicht ausdrücklich Stellung.  Dennoch ist der „Ziegenhaar-Fall“ heute einer der klassischen Beispielfälle der Abgrenzung von Tun und Unterlassen. Siehe hierzu das folgende Problemfeld.















Die Seite wurde zuletzt am 16.4.2023 um 12.14 Uhr bearbeitet.



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