Blogbeitrag : Von Segelschuhatzen und Klausurrückgaben - Meine Zeit bei "Schulterschluss statt Ellenbogen"
„Du studierst Jura? Hast du schon mal Seiten aus einem Buch gerissen?“ oder „Es gibt zwei Arten von JuristInnen – manche sind ganz okay und die anderen würden über Leichen gehen, um selbst voranzukommen. Ich hoffe, du gehörst du den Guten.“ Beides wurde mir erwidert, als ich gegenüber einer neuen Bekanntschaft zerknirscht zugegeben habe, Jura zu studieren. Daraufhin folgten ausführliche Rechtfertigungsversuche und Beteuerungen meinerseits, solches Verhalten zutiefst zu verurteilen und selbstverständlich auf der richtigen Seite zu stehen.

- Ich bin Mariel, 21 Jahre alt und studiere seit Oktober 2023 Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg. Dieses Bild zeigt mich wie ich leibe und lebe vor meinem Lieblings-Graffito auf dem Gebäude des LSH in der Erbprinzenstraße 17a.
Jura-Interessierte werden pausenlos mit den Klischees konfrontiert, die ihrem Studiengang anhaften. Das hat mich schon vor Beginn des Studiums genervt, doch als Erstsemester wurde ich selbst Subjekt solcher Anschuldigungen und kam häufig in Erklärungsnot. Hätte ich zumindest schockierende Anekdoten von zertrümmerten Laptops und gelöschten Hausarbeiten zu erzählen gehabt – tatsächlich waren aber all meine Erfahrungen bis zum damaligen Zeitpunkt durchweg positiv. Was ist dran an dem Narrativ der skrupellosen Ellenbogen-Mentalität? Wie wirkt sie sich auf Studierende aus und was kann dagegen unternommen werden?
Diese Fragen haben mich motiviert, eine Bewerbung für das Schulterschluss-Projekt einzureichen. Das Institut für Wirtschaftsstrafrecht und Kriminologie (Strafrechtslehrstuhl Hefendehl bzw. „LSH“) war mir schon von einem Kaffeekränzchen rund um Dresdener Eierschecke bekannt und tatsächlich hatte mein Gesuch Erfolg. Voll motiviert startete ich im Februar 2024 in meine brandneue Tätigkeit und bekam prompt meine erste Aufgabe zugeteilt: Die Suche nach einem Vorgesetzten, sprich der Teamleitung. Also machte ich mich bewaffnet mit Stellenausschreibungen, Reißzwecken und Klebeband auf eine Erkundungstour durch Freiburg und plakatierte, wo ich nur konnte. Und während ich noch hoffnungsvoll in der Erbprinzenstraße saß und von dem perfekten Schwiegersohn – äh Vorgesetzten – träumte, gingen uns zwei Fliegen ins Netz. Levin, Daniel und ich machten es uns in einem nahezu fensterlosen aber trotzdem überaus heimeligen Zimmer im 2. Stock gemütlich und begannen mit der Arbeit.

- In wohliger Atmosphäre verbrachten wir hier zahlreiche Nachmittage. Dabei haben der Ventilator und das immerhin 40cm X 35cm große Fenster fast vergessen lassen, dass uns eigentlich ein Arbeitsplatz fehlte.
Am Anfang kam die Literaturrecherche – nach einer ausführlichen Durchforstung der einschlägigen research portals hatte ich gelernt, was ein „Digital Object Identifier“ und der Unterschied zwischen einer qualitativen und quantitativen Erhebung ist. Abgesehen davon hatten Daniel und Levin genug Material gesammelt, um einen Interviewleitfaden zu erstellen. Ausgehend davon gingen wir ins Brainstorming und legten 5 abzufragende Kategorien fest: Konkurrenzdruck, antisoziales Verhalten, Kollaboration, Psychische Belastung und Hilfs- und Unterstützungsangebote. Der Plan fürs Interview war dank fachkundigem Coaching von Levin perfekt, jetzt fehlten nur nach Teilnehmende.

- So sieht es aus, wenn sich ein Soziologe und Psychologe/ Physikdidaktiker den Kopf über education theories zerbrechen
Da meine Vorgesetzten-Rekrutierungsstrategie von Beginn des Jahres solch vorzeigbare Ergebnisse hervorgebracht hatte, wiederholten wir die bereits geschilderte Methode und plakatierten Freiburg, zusätzlich durften wir unseren Aufruf auf den Jurcoach-Kanälen verbreiten. Nichtsdestotrotz blieb der erhoffte Ansturm aus und wir mussten auf alternative Methoden zurückgreifen – ein Entschädigungsaufwand in Höhe von 20€. Diese Maßnahme in Kombination mit der Verbreitung in meiner Jahrgangsgruppe auf WhatsApp bescherte uns eine vorzeigbare Zahl an Interessierten, die wir sowohl nach Studienfortschritt sortierten als auch durchmischten Gruppen zuordneten und zu insgesamt 5 Interviews einluden.
Und ehe wir es uns versahen, stand der erste Interviewtermin am 28.06. im hart umkämpften Seminarraum der Erbprinzenstraße vor der Tür. Voller Aufregung warteten Levin und ich bei Oreos, Bananen und Sprudelwasser auf die Teilnehmenden aus dem 2. Semester. Nach einem kurzen Intro und einer Vorstellungsrunde starteten wir in die Fragen und ich übernahm sogar einen eigenen Frageblock. Ca. 2 Stunden später war alles gesagt und Levin und ich zufrieden. Das nächste Interview sollte weniger elegant über die Bühne laufen – zu meiner Schande kam ich erst kurz vor knapp an, hatte die Verpflegung vergessen (zum Glück waren noch ein paar Haferkekse von letztem Mal übrig) und während des Interviews überaus reizvolle Hustenanfälle, wegen derer ich den Raum mehrmals verlassen musste. Wie sich heraus stellte, hatte ich Bronchitis und Daniel übernahm meinen bescheidenen Posten für die letzten 3 Interviews.
Diese Tatsache hätte mir freilich schlaflose Nächte bereitet und mich zur Weißglut getrieben, wäre mir nicht eines gewiss gewesen – ich würde mit dem exakten Inhalt der verpassten (und der nicht verpassten) Interviews im Wege der Transkription noch vertrauter werden als mit dem Futter meiner eigenen Ralph Lauren-Westentasche. „Du warst das Zarteste, das mir begegnet, / das Härteste warst Du, damit ich rang./ Du warst das Hohe, das mich gesegnet - / und wurdest der Abgrund, der mich verschlang.“ Zufälligerweise haben Rainer Maria Rilke und ich genau dieselben Zeilen ohne voneinander zu wissen zu Papier gebracht – er im Jahre 1901 über seine scheidende Beziehung von Lou Andreas-Salomé und ich im Sommer 2024 über die Interviewtranskription. Das gesprochene Wort in all seiner Fehlerhaftigkeit zu Papier zu bringen (und das stunden- nein, tagelang!) hat etwas unglaublich sinnstiftendes, aber glänzt gleichzeitig durch seine Eintönigkeit. Nach teilweise 3-maligem Anhören desselben mehrstündigen Interviews und mit tatkräftiger Unterstützung einer überraschend fähigen Transkriptions-KI war mir jedes Husten (leider vor allem mein eigenes) und jedes Räuspern vertraut. Als ich mit meiner Aufgabe fertig war, blickte ich sowohl lachend als auch weinend auf das Geschaffene zurück.
Die nicht allein durch die Interviewtranskription, sondern auch durch das Erstellen von zusammenfassenden Tabellen und Korrekturlesen von Levins Analysen, erlangte Vertrautheit mit dem Inhalt der Interviews, verleiht mir die Fähigkeit, deren unterhaltsamste Passagen bei Tag und Nacht aus dem Stehgreif zu rezitieren. Nachhaltig beeindruckt bin ich beispielsweise von dem Terminus „Segelschuhatzen“ sowie einer Gruppe Jura-Studierende mit demselben klangvollen Vornamen, die sich Gerüchten zufolge gegenseitig beim Unterschreiten eines festgelegten Notenziels Strafen auferlegen wie nicht mehr im Juridicum lernen oder keinen Pullover über das Hemd ziehen zu dürfen. Fällt das nicht unter das Folterverbot? Ich werde mich am Lehrstuhl umhören. Gleich mehrfach erwähnt wurde die alljährliche Semesteröffnungsrede des Studiendekans, in der ein Mindestarbeitspensum von 40 – besser 60 Stunden die Woche propagiert wurde. Dies habe bei den Interviewpersonen Druck sowie psychische Belastung ausgelöst und wurde als negativ und unrealistisch empfunden. Des Weiteren ist uns die spontane Äußerung einer Teilnehmerin im Gedächtnis geblieben: „Man kommt durch dieses Studium fast schweigend“.

- Nur ein unbedeutendes Regal, das niemals zum Ventil der Freiburger Ellenbogenmentalität unter JuristInnen gereichen könnte? Weit gefehlt. Wer zu bequem ist seine Bücher aus dem Lesesaal-Bestand selbst zu verräumen oder vielleicht darauf hofft, sie am nächsten Tag wiederverwenden zu können, stellt sie einfach in dieses Regal.
Unsere weiteren key-findings lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das Jurastudium wird im Vergleich mit anderen Studiengängen als besonders kompetitiv wahrgenommen, was durch den ständigen Vergleich mit Peers, Anekdoten von Dozierenden und älteren Studierenden sowie einer allgemein leistungsorientierten Veranlagung von Jurastudierenden erklärt wird. Dieser Konkurrenzdruck äußert sich in einer Dichotomie zwischen einem gesunden Vergleich mit sich selbst oder Freunden und einem ungesunden Vergleich mit anderen Peers, insbesondere während Klausuren und Hausarbeiten. Antisoziales Verhalten, wie das Verstecken/ Horten von Literatur und das Herausreißen von Buchseiten, prägt den Studienalltag, existiert in seinen Extremformen (z.B. Hausarbeiten löschen) aber vor allem in Erzählungen. Erklärt werden diese Tendenzen mit dem Wettbewerb um Ressourcen und Unsicherheiten im Studium. Kollaboration bietet wertvolle neue Perspektiven, motiviert und unterstützt bei der eigenen Reflexion und Fehleranalyse, kann aber aufgrund unterschiedlicher Leistungsniveaus auch zeitintensiv und frustrierend sein.
Die psychische Belastung nimmt mit dem Verlauf des Studiums zu, insbesondere in der Examensvorbereitung, begleitet von einem Gefühl der Überforderung und mangelnder Trennung zwischen Uni- und Privatleben. Coping-Strategien wie Pausen, Sport und soziale Kontakte außerhalb des Studiums erfreuen sich hoher Beliebtheit. Unterstützungsangebote wie Justizia-Mentoring oder die Studienfachberatung werden teils genutzt, während Angebote wie PsyMent weniger bekannt sind. Es besteht der Wunsch nach mehr psychologischer Unterstützung und einer besseren Vorbereitung auf die kollaborative Arbeitsweise im späteren Berufsleben.

- Kaltes Licht, noch kältere Metallregale und gelegentlich peinliche Begegnungen – der Großteil der Erzählungen unserer Interviewteilnehmenden spielt sich in diesem Bereich des Juridicums in der UB ab.
Diese Ergebnisse mussten wir unverzüglich mit dem Rest des Lehrstuhlteams teilen! Also beriefen wir am 28.10. (rein zufällig während einer Verwaltungsrechtvorlesung) unsere Zwischenpräsentation ein. Das Meeting diente allerdings nicht nur dem Verkünden unserer frohen Botschaft, sondern sollte auch auf eine bundesweit angelegte Online-Umfrage vorbereiten, mittels derer wir unseren Erkenntnishorizont über das beschauliche Freiburg hinaus erweitern wollten. Nach unserem ebenso anregendem wie fesselndem Vortrag brach eine glücklicherweise zivilisierte Diskussion voller spannendem Input über die Gestaltung des geplanten Online-Fragebogens aus. Gemeinsam trafen wir die Entscheidung, uns u.a. auf eine mögliche Lerngruppenbörse zu fokussieren, bezüglich derer wir auch mit der Fachschaft kooperierten. Die Vorbereitungen für den Start der Schulterschluss-Umfrage liefen auf Hochtouren und mir fiel die dankbare Aufgabe zu, Kontaktdaten von allen Jura-Fachschaften in Deutschland zu sammeln. Dabei konsumierte ich unchristliche Mengen an Tee und stolperte über den mäßig relevanten, aber trotzdem überraschenden Fakt, dass sich die Fachschaft Köln die Domain „fachschaft.de“ gesichert zu haben scheint. Am. 25.11. ging unsere Umfrage live und hat dank Roland Hefendehls besonders hervorzuhebendem Engagement eine Teilnehmer*innenzahl von bisher 1617 Personen erreicht! Damit haben wir es sogar in den Podcast des Berliner Professors Martin Fries, #fussnote, geschafft, das soll uns erstmal eine*r nachmachen.
Nach der Arbeit kommt das Vergnügen – und das beim LSH gleich zweifach. Sowohl das Oktoberfest im November als auch die Weihnachtsfeier in der Erbprinzenstraße begingen wir in festlichster Manier und verbachten dann tränenreich unseren letzten gemeinsamen Arbeitstag. In den kommenden Monaten werden Levin und Daniel einen Maßnahmenkatalog erstellen, einen Ergebnisbericht (abrufbar auf strafrecht-online.de) und ein Paper gemeinsam mit Roland Hefendehl verfassen. Vom Schulterschluss-Projekt wird also so einiges bleiben – bestenfalls stoßen wir ein Umdenken an was Gesichtspunkte wie Anekdoten über Konkurrenzsprache von Dozierenden, die Ressourcenknappheit in der UB sowie die geringe Bedeutung von Zusammenarbeit betrifft.
Aber nicht nur die Jura-Fakultät, sondern auch mich hat dieses Projekt gezeichnet: Von einer krampfhaften Hypersensibilität geplagt denke ich seit dem Projekt immer zweimal nach, ob ich es vor Gott oder noch wichtiger, dem Schulterschluss-Team, rechtfertigen kann, meinen UB-Platz während der Mittagspause zu reservieren. Und wenn ich bei meiner akribischen Literaturrecherche über ein Buch mit herausgerissen Seiten stolpere, ist es wie in das Gesicht eines alten Bekannten zu blicken. Abgesehen davon habe ich mir fest vorgenommen, mich nicht mehr für meinen Studiengang zu rechtfertigen. Mit dem von Ellenbogenmentalität geprägtem Image des Jurastudiums kann erst Schluss sein, wenn nicht mehr proaktiv davon ausgegangen wird, dass alle Juristinnen unter die dunkle Triade fallen. Diese Selbstreflexion ist auch Levin und Daniel zu verdanken, deren Leitung im Projekt und Freundschaft ich unglaublich schätze. Dasselbe gilt für das gesamte Lehrstuhlteam und Roland Hefendehl, dessen Einsatz für unser Projekt die Grundlage für dessen Gelingen gelegt hat. Ich blicke zurück auf ein spannendes, lehrreiches und prägendes Jahr und werde die frohe Schulterschlussbotschaft hoffentlich bis zum Staatsexamen aufrechterhalten können. Auf ein einen gemeinschaftlicheres Miteinander und mehr Zusammenarbeit! Bis dahin warte ich angespannt auf den kommenden Maßnahmenkatalog und Ergebnisbericht, deren Lektüre ich wage schon im Voraus zu empfehlen.

- Ohne das bestärkende und irgendwie gutmütig väterliche Auge von Albert Camus samt feschem Zigarettenstummel im Mund (selbst gedreht), hätte das Schulterschluss-Team nicht einmal halb so motiviert zum Werke schreiten können. Aber dabei soll auch das Hören des gelegentlichen Evanesence-Songs geholfen haben, und das noch nicht einmal auf meine Initiative!
Fragen und Anmerkungen: