Zusammenfassung der Gruppeninterviews zum Konkurrenzdruck und zur Zusammenarbeit im Jurastudium
Im Sommersemester 2024 wurden fünf Gruppeninterviews mit insgesamt 17 Jurastudierenden der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg geführt. Ziel war es herauszufinden, wie Studierende das Spannungsfeld zwischen Konkurrenz und Kollaboration im Jurastudium wahrnehmen und welche Faktoren dies beeinflussen. Die Ergebnisse liefern Einblicke in den erlebten Konkurrenzdruck, Formen antisozialen Verhaltens, kollaborative Praxis und psychische Belastungen. Außerdem wurden bestehende sowie gewünschte Unterstützungsangebote thematisiert. Nachfolgend werden die zentralen Befunde zusammengefasst.
Eine visuell-interaktive Zusammenfassung der Ergebnisse findet ihr zudem auf dieser Lucid-Chart
1. Methodisches Vorgehen und Zusammensetzung der Interviewgruppen
Die Studie nutzte ein exploratives Gruppeninterview als qualitative Erhebungsmethode. Dabei wurden Fragen zu den Themen Konkurrenzdruck, antisoziales Verhalten, Kollaboration, psychische Belastung sowie Hilfsangebote gestellt. Um möglichst unterschiedliche Blickwinkel zu erfassen, kamen Studierende aus unterschiedlichen Fachsemestern und mit verschiedenen Studienfortschritten zusammen. So konnten sowohl Anfänger*innen (2. Semester) als auch fortgeschrittene Studierende (bis 10. Semester) in kontrastierenden Gruppen diskutieren.
Die Gespräche dauerten jeweils rund eineinhalb Stunden (im Durchschnitt 1:45 h) und wurden mit Einverständnis aller Teilnehmenden aufgezeichnet. Die Auswertung erfolgte in mehreren Schritten: Zunächst wurden die Interviews sequenziert (etwa nach Themenblöcken), anschließend offen und axial nach den Prinzipien der Grounded Theory kodiert und schließlich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Gruppen hin analysiert.
2. Wahrnehmung von Konkurrenzdruck
Ein zentrales Thema war die Frage, wie stark und wodurch sich Studierende im Jurastudium untereinander in Konkurrenz sehen.
- Erste Ablehnung, dann Widerspruch: Zunächst wurde die eigene Wahrnehmung von Konkurrenz oft verneint. Einige betonten, sie seien ins Studium gegangen, „um sich selbst zu beweisen“ und würden andere nicht als Konkurrenz sehen. Im Verlauf der Interviews kamen jedoch Beispiele ans Licht, die genau auf eine erhöhte Konkurrenz hinweisen.
- Vergleich mit anderen Studienfächern: Das Jurastudium wurde wiederholt als stärker von Konkurrenz geprägt beschrieben als z.B. MINT- oder Lehramtsstudiengänge. Als Hauptgrund nannten die Teilnehmenden, dass im Jurastudium fast ausschließlich Einzelprüfungen (Klausuren, Hausarbeiten, Examen) verlangt werden, während anderswo Gruppenarbeiten üblich seien.
- Mechanismus „Vergleichen“: Studierende erleben Konkurrenzdruck vor allem dann, wenn sie sich – oft ungewollt – mit anderen vergleichen: bei Notenrückgaben in Klausurenphasen oder bei Hausarbeitsergebnissen. Ein „gesunder“ Vergleich mit dem eigenen Vorsemesterstand oder innerhalb der Freundesgruppe wirkt eher motivierend. Ein erzwungener, penetranter Vergleich mit anderen kann hingegen als unangenehm empfunden werden und Druck aufbauen.
- Bedeutung der Examensnote und (vermeintliche) Willkür: Viele schildern, dass das Gefühl, die Examensnote bestimme später alle Berufschancen, den Konkurrenzdruck verschärfe. Gleichzeitig empfinden sie die Bewertung juristischer Prüfungen bisweilen als willkürlich. Dadurch entsteht das Bedürfnis, sich von anderen abzuheben – oder zumindest nicht „schlechter“ zu sein.
Insgesamt wird Konkurrenzdruck insbesondere in Klausur- und Hausarbeitsphasen als hoch erlebt, da hier die zentralen Vergleichssituationen entstehen und sich oft eine latente Angst vor dem „Durchfallen“ oder schlechterer Benotung im Vergleich zu anderen zeigt.
3. Antisoziales Verhalten
Ein Teil der Interviews behandelte explizit Verhaltensweisen, die Mitstudierenden schaden oder Kooperation erschweren. Insbesondere wurden genannt:
- Horten/Verstecken von Literatur: Am häufigsten benannt und von fast allen erlebt. Dabei werden relevante Bücher in der Bibliothek lange oder bewusst versteckt gehalten, sodass andere sie nicht nutzen können.
- Beschädigen von Büchern: Teilnehmende berichteten vom Herausreißen relevanter Seiten oder von Notizen, die andere bewusst in die Irre führen sollen. Manche bezeichnen dies jedoch eher als Anekdote oder Einzelfälle.
- (Hörensagen über) Löschen fremder Dateien: Einige Studierende kennen Geschichten, wonach Hausarbeiten oder digitale Dokumente von anderen gelöscht wurden. Ob das in der Breite tatsächlich vorkommt, ist unklar. Dennoch erzeugt allein die Angst davor Vorsichtsmaßnahmen (z.B. Laptop immer mitnehmen).
Solche Handlungen werden einerseits als Ausdruck des Wunsches interpretiert, „besser zu sein“ als andere und nicht „abgehängt“ zu werden. Andererseits gehe es auch um die knappe Ressource Fachliteratur: Hausarbeiten erfordern oft spezifische Quellen, die nur eingeschränkt verfügbar sind. Für manche entsteht dadurch ein Anreiz, sich Literaturexemplare exklusiv zu sichern.
4. Kollaboration zwischen Studierenden
Trotz des thematisierten Konkurrenzdrucks gibt es zahlreiche Situationen im Jurastudium, in denen intensive Zusammenarbeit stattfindet.
- Grüppchenbildung zu Studienbeginn: Die Anfangszeit (Ersti-Woche, erste Arbeitsgemeinschaften) gilt als besonders prägend. Hier bilden sich oft Kleingruppen, die für den Rest des Studiums teilweise stabil bleiben. Wer zu Beginn keinen Anschluss findet (z.B. weil man die Ersti-Woche verpasste), kann es schwerer haben, später Lerngruppen zu finden.
- Hausarbeiten und gemeinsames Lernen: Über alle Semester hinweg wird die Zusammenarbeit in Hausarbeitsphasen als wichtigstes Feld der Kollaboration hervorgehoben. Studierende tauschen sich intensiv über Literatur, Argumentationslinien und methodische Fragen aus. Auch in der Examensvorbereitung bildet sich oft ein Netzwerk für gegenseitige Unterstützung.
- Digitale vs. Face-to-Face-Kollaboration: Zwar erfolgen Absprachen häufig via WhatsApp, gelegentlich auch per Zoom o.Ä. Doch als besonders produktiv wird der persönliche, direkte Austausch empfunden – z.B. in Lerntreffs oder gemeinsamen Bibliothekssitzungen. Digitale Kommunikation reicht meist für Organisatorisches oder schnelle Fragen, aber nicht für detaillierte Diskussionen.
- (Un)Freiwilligkeit der Teamarbeit: Während im späteren Berufsleben (z.B. in einer Großkanzlei oder in der Justiz) Teamarbeit oft unvermeidbar ist, basiert Kollaboration im Studium auf freiwilliger Eigeninitiative. Dies führt dazu, dass manche Studierende zwar um die Vorteile wissen, sich aber dennoch lieber allein vorbereiten.
Vor allem fortgeschrittene Studierende sehen ein Defizit: Das Studium vermittle kaum die Fähigkeit zu strukturiertem Teamwork; viele wünschten sich hier mehr institutionelle Unterstützung, etwa feste Arbeitsgruppen oder Workshops, die Soft Skills und kooperative Kompetenzen fördern.
5. Psychische Belastung und Coping-Strategien
In allen Interviews zeigte sich, dass Stress und psychische Belastung im Jurastudium kontinuierlich ansteigen. Höhepunkt ist meist die Examensvorbereitung, in der der Erfolgsdruck als besonders groß erlebt wird.
- Latenter Dauerstress: Viele empfinden einen permanenten Druck, „immer weiterlernen“ zu müssen, da das gesamte Studium auf das Staatsexamen hinausläuft. Klausuren und Hausarbeiten erlauben kaum längere Erholungspausen, da praktisch jedes Semester Prüfungsleistungen oder Praktika anstehen.
- Konkret akute Stressphasen: Kurz vor Abgaben oder in Klausurperioden verstärken sich Prüfungsängste, Schlafprobleme oder Selbstzweifel. Einzelne berichten von psychischen Erkrankungen, die eine therapeutische Begleitung nötig machen.
Strategien zur Stressbewältigung: Genannt werden Sport, ein klares Abgrenzen von Lernen und Freizeit (z.B. Laptop in der Bib lassen, sich nach Hause „rausziehen“), gezielte Ruhepausen oder Urlaub. Außerdem ist das Gespräch mit Freundinnen, Familie oder Kommilitoninnen wichtig. Vereinzelt nennen Studierende aber auch Alkohol als eine Art Ventil nach anstrengenden Lernphasen.
6. Hilfs- und Unterstützungsangebote
Die befragten Studierenden kennen nur wenige spezifische Angebote. Genutzt oder zumindest bekannt sind:
- Justitia Mentoring: Wird als hilfreich wahrgenommen, richtet sich aber nur an einen Teil der Studierenden und könnte aus Sicht der Befragten ausgebaut werden.
- Psychosoziale Beratung (SWFR): Manche wissen davon, andere nicht. Diejenigen, die sie in Anspruch nahmen, berichten positiv.
- Studienfachberatung: Wird genutzt für organisatorische Fragen, nicht aber für psychosoziale oder kooperative Themen.
- MedOn (ein Unterstützungsangebot zum Stressabbau, ursprünglich für Medizinstudierende): Teils bekannt, jedoch selten von Jurastudierenden besucht.
Gewünschte Maßnahmen umfassen u.a. ein Mentoring-Programm für alle Semester, intensivere Unterstützung beim Bilden von Lerngruppen (z.B. über eine zentrale „Lerngruppen-Börse“) sowie Seminare und Veranstaltungen, die praxisorientierte Kollaborationstechniken vermitteln. Auch das Schaffen größerer Sensibilität für psychische Gesundheit und offene Gesprächsangebote zu Stress und Ängsten werden gefordert.
7. Fazit und Ausblick
Die Interviews zeigen ein vielschichtiges Bild:
- Einerseits empfinden viele Studierende das Jurastudium als kompetitiv, geprägt von Einzelprüfungen und einem starken Fokus auf die Examensnote. Dies trägt zu Konkurrenzdenken, unsicherem Vergleichen und teils antisozialen Verhaltensweisen bei.
- Andererseits gibt es zahlreiche informelle Kollaborationen, besonders bei Hausarbeiten und in der Examensvorbereitung, in denen sich Studierende gegenseitig stützen und austauschen.
- Psychische Belastung nimmt mit jedem Semester zu. Studierende wünschen sich mehr strukturelle und didaktische Angebote, um einerseits Kooperation zu erlernen und andererseits Stress und Angst systematisch entgegenzuwirken.
Für Fakultät und Lehrende könnte es ein Ansatzpunkt sein, verbindliche Gruppen- oder Projektarbeiten einzuführen, um Kollaboration stärker zu institutionalisieren. Zusätzliche Mentoring- oder Patenschaftsprogramme für alle Semester, mehr Aufklärung über Beratungsangebote und ein offenerer Umgang mit psychischen Belastungen könnten das Jurastudium humaner und kooperativer gestalten. Darüber hinaus könnte eine Erweiterung der digitalen Kollaborationsangebote, beispielsweise auf Jurcoach, essenzielle Softskills wie Teamfähigkeit unter der juristischen Studierendenschaft fördern und Studierende mit gemeinsamen Lernerfolgen an eine gemeinschaftliche Arbeitsweise heranführen. Damit ließe sich der im Studium erlebte Gegensatz zwischen Konkurrenz und Kooperation entschärfen – und zugleich der künftigen Berufspraxis Rechnung tragen, in der Teamarbeit in vielen juristischen Tätigkeitsfeldern essenziell ist.
Fragen und Anmerkungen: