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§ 239 trotz mangelnden Fortbewegungswillens?







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Potenzielle Fortbewegungsfreiheit; aktueller Fortbewegungswille; Autonomie des Opfers; Freiheitsberaubung; Einsperren


Problemaufriss


Erforderlich für die Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 239 ist, dass in die persönliche Fortbewegungsfreiheit einer anderen Person eingegriffen wird. Fraglich ist, ob davon auch die Konstellationen erfasst sind, in denen das Opfer die Freiheitsberaubung nicht bemerkt oder keinen Fortbewegungswillen bilden kann.


Beispiel 1: Student S sperrt für eine Stunde die Tür des Raumes zu, in dem Professor P arbeitet. Da letzterer aber extrem vertieft ist in seine Arbeit, hat er während der gesamten Zeit nicht gemerkt, eingesperrt gewesen zu sein.


Beispiel 2 : S sperrt den bewusstlosen O im Schlafzimmer ein.


Problembehandlung


Ansicht 1: Nach einer Ansicht komme es auf den aktuellen Fortbewegungswillen an. Eine vollendete Freiheitsberaubung liege nur dann vor, wenn das Opfer sich tatsächlich fortbewegen wollte. (Fischer StGB, 67. Aufl. 2020, § 239 Rn. 4; Studienkommentar StGB/Joecks/Jäger, 12. Aufl. 2018, § 239 Rn. 11, 13; Schumacher FS Stree/Wessels, 1993, S. 434 f.).


Nach dieser Ansicht würde die Handlung des S weder im Beispiel 1 noch im Beispiel 2 den Tatbestand des § 239 I erfüllen.


Kritik: Kranke und Ruhebedürftige haben zwar aufgrund ihres Zustandes gerade keinen Fortbewegungswillen. Es wäre jedoch unbillig, ihnen den Schutz des § 239 zu versagen (BGHSt 32, 183, 188). Dafür spricht auch, dass im Rahmen des 6. StrRG der Ausdruck „des Gebrauchs der persönlichen Freiheit beraubt“ gestrichen wurde. Der neue Wortlaut stellt klar, dass § 239 I ebenso das Freiheitspotential schützt (Leipziger Kommentar StGB/Träger/Schluckebier, 11. Aufl. 2005\, § 239 Rn. 9; Münchener Kommentar StGB/Wieck-Noodt, 3. Aufl. 2017, § 239 Rn. 7).


Ansicht 2: Eine andere Ansicht stellt auf den potentiellen Willen des Opfers ab. Eine Freiheitsberaubung liege daher auch dann vor, wenn kein Fortbewegungswille vorhanden ist. Es komme nicht darauf an, ob dieser mangels gefassten Entschlusses oder wegen fehlender Entschlussfähigkeit nicht vorliegt. Entscheidend sei allein, dass dem Opfer seine Fortbewegungsmöglichkeit verwehrt werde. Somit seien auch Betrunkene und Schlafende geschützt. Säuglinge oder Kleinstkinder seien jedoch nicht vom Schutz des § 239 umfasst, da es diesen von vornherein an der Fähigkeit fehle, überhaupt einen Fortbewegungswillen bilden zu können (Lackner/Kühl/Kühl StGB, 29. Aufl. 2018, § 239 Rn. 1; 17; Leipziger Kommentar StGB/Träger/Schluckebier, § 239 Rn. 9).


Hiernach würden beide Handlungen des S unter § 239 I fallen.


Kritik : Konstellationen, in denen der Täter alles in seiner Macht Stehende getan hat, um das Opfer seiner Freiheit zu berauben, das Opfer aber nichts davon bemerkt, sind üblicherweise als Versuch zu qualifizieren. Die Notwendigkeit, auch solches Verhalten unter § 239 I zu fassen, ist mit dem 6. StrRG und der Einführung der Versuchsstrafbarkeit in § 239 II entbehrlich geworden. Andernfalls würde die Vollendungsstrafbarkeit viel zu weit nach vorne verlagert und § 239 I in ein Gefährdungsdelikt umgewandelt werden. Ein kriminologischer Anlass, bloße Gefährdungen der Bewegungsfreiheit zu bestrafen, besteht zudem nicht (Fischer StGB, § 239 Rn. 4a; Studienkommentar StGB/Joecks/Jäger, § 239 Rn. 13; Eisele BT I, 4. Aufl. 2017, Rn. 430).


Ansicht 3: Einer dritten Ansicht (h.M.) zufolge, liege eine vollendete Freiheitsberaubung dann vor, wenn das Opfer seinen potentiellen Fortbewegungswillen jederzeit aktualisieren könnte, das heißt, ihn jederzeit bilden könnte. Bei Schlafenden oder Bewusstlosen sei das nicht der Fall. Zum Teil wird vertreten, der Tatbestand sei erst mit dem Aufwachen vollendet (Rengier BT II, 20. Aufl. 2019, § 22 Rn. 5). Andere sehen eine Vollendung bereits dann, wenn sich die Möglichkeit des Erwachens nicht mit Sicherheit ausschließen lässt und sich der Angriff nach dem Willen des Täters bei Erwachen voll entfalten soll. (Münchener Kommentar StGB/Wieck-Noodt, § 239 Rn. 17; Wessels/Hettinger/Engländer, 43. Auflage 2019, Rn. 352)


Nach dieser Ansicht fällt nur die Handlung des S aus Bsp. 1 unter den Tatbestand des § 239.


Kritik: Ein Nachweis des Erwachens oder Zurückkehren des Bewusstseins lässt sich in der Praxis oft nur sehr schwierig ermitteln, da die Grenzen oft fließend sind (Leipziger Kommentar StGB/Träger/Schluckebier, § 239 Rn. 9). Eine Unterscheidung zwischen Fortbewegungsunfähigen und Fortbewegungsunwilligen führt zu einem Schutz der Fortbewegungsmöglichkeit und nicht der Fortbewegungsfreiheit (Fischer StGB, § 239 Rn. 4).















Die Seite wurde zuletzt am 17.4.2023 um 14.21 Uhr bearbeitet.



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