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Gewahrsam bei Bewusstlosen und Sterbenden







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Gewahrsam; natürlicher Herrschaftswille; Sachherrschaft, § 242; potentieller Herrschaftswille; bewusstlos


Problemaufriss


Nach h.M. ist Gewahrsam die vom natürlichen Herrschaftswillen getragene tatsächliche Sachherrschaft, die sich nach der allgemeinen Verkehrsanschauung bestimmt (Kindhäuser/Böse Strafrecht BT II, 11. Aufl. 2020, § 2 Rn. 28) – vgl. allgemein zum Gewahrsamsbegriff auch das entsprechende Problemfeld. Vor allem bei Schlafenden und Bewusstlosen ist fraglich, inwieweit hier von einem "natürlichen Herrschaftswillen" die Rede sein kann. Allgemein anerkannt ist, dass sich die Sachherrschaft nicht darauf beziehen kann, dass ein gegenwärtiger und auf das Einzelstück konkretisierter Herrschaftswille gegeben sein muss. Andernfalls würde das unbemerkte Einstecken von Gegenständen nicht mehr vom Diebstahlstatbestand umfasst. Dementsprechend wird es für ausreichend empfunden, dass lediglich ein potentieller Wille gegeben ist und das Wissen um das generelle Ob und Wo der fraglichen Sache (Fischer StGB, 67. Aufl. 2020, § 242 Rn. 13; Wessels/Hillenkamp Strafrecht BT II, 42. Aufl. 2019, § 2 Rn. 87). Damit können schlafende Personen einen potentiellen Willen haben. Dies wird  auch bei Bewusstlosen angenommen (BGHSt 4, 210 f.). Problematisch ist jedoch die Konstellation der irreversiblen Bewusstlosigkeit, d.h. wenn Bewusstlose sterben und vor Eintritt des Todes nicht mehr aufwachen. Da Tote in keinem Fall einen Willen bilden können, ist die Frage eines potentiellen Willens Bewusstloser umstritten.


Problembehandlung


Ansicht 1: Einer Ansicht nach kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein genereller Herrschaftswille im Zeitpunkt der Bewusstlosigkeit gegeben ist (Seelmann/Pfohl JuS 1987, 199; BayObLG NJW 1961, 978, 979). Da der Bewusstlose in dieser Konstellation nie mehr in der Lage sein wird, überhaupt einen Willen zu formen, sei dieser auch nicht schutzwürdig.


Kritik: Gegen diese Ansicht wird eingewandt, dass in diesen Fällen sich ex-post entscheidet, ob das Opfer zu bewusstlosen Lebzeiten nun Gewahrsam innehatte oder nicht. Problematisch sei dies aus dem Blickwinkel des effektiven Rechtsgüterschutzes. Es können mitunter lange Zeiträume der Ungewissheit zwischen Bewusstlosigkeit und Tod liegen. Zudem dürfe dem Täter nicht die Gelegenheit gegeben werden darauf zu spekulieren, dass das Opfer letztlich doch sterben würde (Schröder JR 1961, 188 f.; BGH NStZ 1985, 407 f.). Außerdem verkennt diese Ansicht, dass es auf den Gewahrsam im sozialen Sinne zum Zeitpunkt der Tatausführung ankommt (Leipziger Kommentar StGB/Vogel, 12. Aufl. 2010, § 242 Rn. 69).


Ansicht 2: Deshalb nimmt eine andere Meinung an, dass Bewusstlosigkeit nicht die verkehrsanschauliche Zuordnung und den natürlichen Herrschaftswillen aufheben kann (BGH NJW 1985, 1911; Lampe JR 1986, 294; Rosenau/Zimmermann JuS 2009, 541, 543; Rengier Strafrecht BT I, 22. Aufl. 2020, § 2 Rn. 27; Fischer StGB, § 242 Rn. 13). Ob der Bewusstlosigkeit das Erwachen oder der Tod folgt, sei für den Bewusstlosigkeitszustand selbst unerheblich. Bis zum Tod ist demnach ein Gewahrsamsbruch möglich.


Kritik: Wendet sich diese Meinung gegen Rechtsunsicherheiten nach der ersten Auffassung, so sind diese auch hier sichtbar. Für einen Außenstehenden ist nicht immer klar, wann nun der Tod eingetreten ist oder wann es sich lediglich um einen Zustand der Bewusstlosigkeit handelt.


Ansicht 3: Eine dritte Ansicht operiert schließlich nicht mit dem Gewahrsamsbegriff der h.M., sondern plädiert für eine sozial-normative Zuordnung einer Sache zu einem Herrschaftsbereich (Keller ZStW 107 [1995], 458, 478; Martin JuS 1998, 890 ff.). Die Meinung unterscheidet sich im Ergebnis nicht von der zweiten Meinung, ist in ihrer Argumentation aber nicht darauf angewiesen, auf einen "natürlichen", nur potentiellen oder hypothetisch-gegenwärtigen Herrschaftswillen abzustellen. Wird eine Sache einer Person sozial zugesprochen, sei sie in deren Gewahrsam. Da lediglich Tote keine Herrschaft in diesem Sinne mehr ausüben können, endet der Gewahrsam auch erst mit dem Tod.


Kritik: Siehe Kritik zur 2. Ansicht und Kritik am sozial-normativen Gewahrsamsbegriff.















Die Seite wurde zuletzt am 17.4.2023 um 14.24 Uhr bearbeitet.



1 Kommentar.

    23. Juli 2023 03:12 - Heiko Recktenwald  
    Nach Binding geht der strafrechtliche Besitz verloren, wenn man in die dauernde Unmoeglichkeit seiner Ausuebung geraet. Bis zum Tod wollen wir die Hoffnung niemals aufgeben.
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